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„Völkerwanderungen sind unvermeidlich

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FURCHE: Als einziger österreichischer Experte haben Sie bereits vor zwei Jahren in der „ Wochenpresse" davor gewarnt, daß die Sanierung der DDR nicht nur zur wirtschaftlichen Schwächung Deutschlands führen wird, sondern auch zu politischen Spannungen. Wie sehen Sie die Situation heute?

PROFESSOR ERICH STREISSLER: Nur wenige meiner damals getroffenen Aussagen sind nicht ganz so eingetroffen, wie ich erwartet habe. Erstens hätte ich den europäischen Zinsanstieg noch für stärker erachtet, als er dann ausgefallen ist. Ich dachte eher an zehn Prozent Zinsen; wir haben zeitweise neun gehabt und liegen gegenwärtig bei 8,5 Prozent. Zweitens habe ich auch erwartet, daß die Ostdeutschen viel mehr Geld von ihren Sparkonten abheben werden. Das haben sie nicht getan; da hatte die Deutsche Bundesbank ganz großes Glück. Meine Begründung war die -und sie hat sich ja auch teilweise bewahrheitet -, daß die Leute dauerhafte Konsumgüter kaufen wollten, die sie bislang nicht haben konnten. Das gegenteilige Argument war die Angst vor Arbeitslosigkeit. Die hat dazu geführt, daß man mehr Geldreserven hält. Dadurch wurden die Sparkonten relativ wenig in Bargeld umgewechselt. Ich glaube, die Deutsche Bundesbank hat dieses Verhalten möglicherweise indirekt gefördert. Das waren im wesentlichen die beiden Umstände, die anders eingetreten sind, als ich gedacht habe.

Auch der Produktivitätsunterschied war noch größer, als ich vermutet hatte. Ich habe die Produktivität der DDR auf 40 Prozent geschätzt, sie ist aber höchstens 35 Prozent gewesen. In einer amerikanischen Studie wurde kürzlich festgestellt, daß die durchschnittliche Produktivität in den Ostgebieten fast genau gleich ist wie die der Türkei.

FURCHE: Wie beurteilen Sie in dieser Situation das Ergebnis des Tarifkonfliktes bei der westdeutschen Metallindustrie?

STREISSLER: Der Versuch deutscher Arbeitnehmer, die notwendigen Steuererhöhungen zur Finanzierung des Tranfers in die „Neuen Bundesländer" durch Lohnerhöhungen abzuwälzen, ist katastrophal. Er ist auch deshalb tief bedrückend, weil es von unwahrscheinlicherpolitischer Unreife zeugt. Ähnliches geschah auch Anfang der achtziger Jahre, als die meisten europäischen Länder in unhaltbare Inflation und weitere Schwierigkeiten hineintrieben. Damals versuchten die Gewerkschaften der meisten anderen Länder, die Öl-preissteigerung - die auch eine Umverteilung dieser Art war - zu überwälzen. Die Deutschen sind damals nicht mitgegangen. Jetzt versuchen sie, die Steuern zu überwälzen. Aber das ist unmöglich, man kann sie vielleicht ein bißchen hin- und herschieben, aber mehr nicht.

In dieser Hinsicht sehe ich den Lohnabschluß sehr negativ. Bezüglich des tatsächlichen Abschlusses muß ich einschränken, sind 5,4 Prozent - die Deutschen haben 4,7 Prozent Inflation - nicht sehr hoch. Die Steuern werden noch steigen, das heißt, die Netto-Realeinkommen werden praktisch überhaupt nicht erhöht. Historisch gesehen ist er ebenfalls nicht sehr hoch, in der gegenwärtigen Lage aber schon.

FURCHE: Kann Finanzminister Theo Waigel ohne weitere massive Steuererhöhungen das explodierende Budgetdefizit überhaupt in vernünftigen Grenzen halten?

STREISSLER: Die Deutschen haben Steuern bereits stark erhöht, aber für meinen Geschmack trotzdem noch immer erstaunlich wenig. Ich hätte nicht gedacht, daß sie so viele Staatsausgaben über Schulden finanzieren würden, was natürlich nur kurzfristig geht. Die deutschen Budgetdefizite bewegen sich in der Größenordnung von sechs oder sieben Prozent des Sozialproduktes, und zwar für den ganzen deutschen Staat zusammen. Das ist gut das zweifache von Österreich. Man weiß die genaue Höhe natürlich nie so genau, weil die versteckten Staatsausgaben so wichtig sind, insbesondere die Bilanz der Treuhand. Man wird also auf jeden Fall mit weiteren Steuererhöhungen über die hinaus, die bereits beschlossen sind, rechnen müssen. Ich persönlich bin der Meinung, daß insbesondere Mehrwertsteuererhöhungen kommen werden. Die deutsche Mehrwertsteuer wird der österreichischen bald sehr nahekommen.

Tendenziell werden die Deutschen über die hohen Steuern etwas weniger wettbewerbsfähig im Ausland, sodaß in diesem Sinne einer unserer Haupt-konkurrenten etwas schwächer wird. Das ist natürlich günstig für unsere Exportwirtschaft. Die deutsche Nachfrage ist eher überhitzt, was Österreich Exportchancen eröffnet.

FURCHE: Die große Frage ist jetzt, wer zahlt die deutsche Wiedervereinigung? Sie haben damals schon gemeint, es kommen auch auf Österreich unvermeidliche Belastungen zu. Diese könnten aber durch rechtzeitiges wirtschaftspolitisches Handeln vermieden werden.

STREISSLER: Unvermeidlich sind auf jeden Fall die Zinssteigerungen, die ich etwas überschätzt habe, und die Belastungen durch eine höhere Inflationsrate. Manches kann durch wirtschaftspolitische Maßnahmen abgewehrt werden. Damit hatte ich gemeint, unter Umständen kann der Schilling aufwerten gegenüber Deutschland. Ich bin aber doch zu der Erkenntnis gekommen, wenn die deutsche Inflation nicht sehr sprunghaft ansteigt, ist das wahrscheinlich nicht notwendig, denn eine Aufwertung ist eine heikle Sache.

FURCHE: Sollen unsere Währungshüter die DM immer noch als Stabilitätsanker sehen ? Es wird über eine Abkoppelung nachgedacht.....

STREISSLER: Per Saldo ist die DM wahrscheinlich noch immer die stabilste Währung in Europa, trotz des Inflationsstoßes, dem sie ausgesetzt ist. Die Schweizer müssen wieder einmal einen viel größeren Inflationsstoß hinnehmen als die Deutschen. Gerechnet vom Anfang der fünfziger Jahre hat die DM die geringste Inflation in Europa gehabt. Die Alternative wäre der Schweizer Franken, aber der hat sich in jeder Krise als weniger inflationsstabil erwiesen als die DM. Mit einem Wort, die Deutsche Mark ist viel schlechter geworden, aber sie ist noch immer die beste Währung...

FURCHE: Kanzler Kohl treibt die gemeinsame Währung für Europa voran. Andererseits gibt es besonders in den Medien viele Skeptiker.

STREISSLER: Das ist ein interessantes Problem. Die Deutschen verlangen genau dasselbe als Voraussetzung einer gemeinsamen Währung in Europa, was sie als Voraussetzung einer gemeinsamen Währung mit Ostdeutschland angesehen haben. Sie nehmen immer an, eine gemeinsame Währung tendiere zu sozialpolitischer Umverteilung. Das ist zwar nicht notwendigerweise eine richtige Aussage, aber es ist die Vorstellung der Deutschen. Und wenn die Deutschen sehen, daß die Umverteilung politisch wahrscheinlich ist, werden sie sehr viel weniger für eine gemeinsame Währung sein. Ja, sie sind überhaupt nicht mehr für eine gemeinsame Währung. Die wird nur von anderen EG-Partnern gewollt. Diese wollen nicht wahrhaben, daß sie alle die DM als"Währung haben. Das schadet dem französischen Selbstwertgefühl und anscheinend auch dem englischen. Die meisten europäischen Länder sind seit 1987 fest an die DM angebunden. Sie sehen zwar die Vorteile, aber wollen die Tatsache nicht wahrhaben, daß die DM de facto ihre Währung ist.

FURCHE: Wird man innerhalb der EG nicht auch wieder mit einem verstärkten Interventionismus - diesmal sogar bei den Deutschen - rechnen müssen, etwa bei der Industriepolitik? Die alten Industriestrukturen im Osten sind ein großer Bremsklotz bei der Sanierung der DDR.

STREISSLER: Den verstärkten Interventionismus halte ich für ein erhebliches Problem. Nicht ganz klar war mir damals, wie stark die Deutschen ihr Interesse an der EG verlieren würden. DerEG-Integrationsprozeß - das ist allgemein bekannt - hat einen Dämpfer erhalten, weil die Deutschen ihn nicht mehr so vorantreiben, wie sie das vorher getan haben, weil sie mit ihren eigenen Problemen beschäftigt sind. Sie reduzieren ihre politschen Perspektiven auf die Binnenprobleme...

Was ich außerdem für einen großen Fehler halte - wobei ich freilich nicht weiß, ob er nicht rückgängig gemacht werden wird -, das ist die Verlagerung der Hauptstadt von Bonn nach Berlin. Erstens muß dort alles wieder neu aufgebaut werden. Zweitens liegt Berlin doch sehr im Osten. Die Orientierung Deutschlands von Frankreich weg erachten viele als problematisch.

FURCHE: Aber nochmals zurück zur Finanzmisere der Deutschen.Welche Auswirkungen sindfür die Sanierung der anderen Reformländer des Ostens zu befürchten?

STREISSLER: In allen diesen Ostwirtschaften sind die Umstrukturierungsschwierigkeiten enorm. Die ganze Zeit hat man sich dort Hoffnungen gemacht und gemeint,- wenn die Grenzen offen sind, wird es begeisterte Kapitalgeber geben. In den Ostwirtschaften glaubte man, es gäbe viel zu verdienen. Aber wieso soll es gerade dort so viel zu verdienen geben? Und ganz abgesehen davon: Der Investitionsbedarf der Oststaaten ist gigantisch. Es ist für die westlichen Länder gar nicht möglich, so viel zu investieren, daß der Aufholprozeß rasch erfolgt. So wird es in Zukunft eben Völkerwanderungen geben. Das ist sicherlich ein erhebliches Problem, das zu schweren Spannungen führt. Andererseits werden die Wanderbewegungen ebenfalls überschätzt. Es ist nicht ganz so leicht zu wandern, wie manche glauben. Man kennt die Sprache nicht und so weiter... Aber der Einstrom nimmt sicherlich zu.

Der Sanierungsversuch der Deutschen ist ein Extremfall. Er zeigt, was man machen kann im eigenen Land. In die ehemalige DDR findet sicherlich der höchstmögliche Transfer statt. Allerdings sieht man auch folgendes: Erstens, auch die Deutschen schaffen keinen wirklich raschen, großen Kapitaltransfer, der dazu führen würde, den Produktivitätsunterschied bald aufzuheben. Jeder redet von zehn bis 15 Jahren. Aber ich glaube, das ist noch kurz.

Bei den anderen Ländern wird es noch viel länger dauern. Zweitens haben wir noch immer 20.000 bis 30.000 Ostdeutsche, die pro Monat nach dem deutschen Westen kommen. Der Zustrom hat sich kaum nennenswert verändert.

Was würde passieren, wenn wir in Österreich die Grenzen dicht machen, damit unsere Arbeitslosigkeit nicht zunimmt? Die Arbeitslosigkeit nimmt dennoch zu, weil dann die Betriebe nach dem Osten abwandern. Bezüglich Ungarn etwa ist das ganz deutlich zu sehen. Das ist die Konsequenz des Endes des Eisernen Vorhanges, dem viele Leute jetzt nachtrauern. Warum sollen nur die Leute aus dem südlichen Mittelmeerraum kommen, die übrigens auch in großen Mengen zuströmen, das ist nur der Öffentlichkeit nicht so bewußt.

Einen Kapitaltransfer in dem Ausmaß, den derOsten braucht, um rasch aufzuholen, haben wir jedenfalls nicht. Der Aufbau dieser Länder übersteigt bei weitem die Kapitalaufbringungsmöglichkeit der Welt. Die Vereinigten Staaten haben überhaupt keine Auslandskapitalaufbringung mehr, die borgen ja selbst die ganze Zeit, und bei den Japanern ist jetzt bald wohl auch aus. Die Japaner sehen überdies gar keinen Grund, warum sie in Osteuropa viel Geld hineinstekken sollen.

FURCHE: Wirtschaftlich gesehen sind Einwanderungen also unvermeidlich? Und politisch?

STREISSLER: Die politische Konsequenz ist die Rechtsradikalisierung. Der Unterschied zur Zwischenkriegszeit ist der, daß in unseren Ländern die Angestellten, Beamten et cetera nicht zu der von Arbeitslosigkeit betroffenen Schicht zählen werden. In der Zwischenkriegszeit war es anders: Da gab es einen Abbau der Bankbeamten, Offiziere... Wenn man bedenkt, daß im wesentlichen die weniger qualifizierten Arbeitskräfte gefährdet sind, so heißt das, daß die radikalen Rechtsparteien ein Wahlpotential in den meisten Ländern von 15 bis 25 Prozent haben. Das ist groß, aber weit von der Mehrheit entfernt. Damit werden wir leben müssen. Das Gespräch führte Elfi Thiemer. Im zweiten Teil des Interviews (FURCHE 24/1992) geht es um die Themen Radikalismus, Krise der Demokratie und die Rolle der österreichischen Kirche.

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