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Volksdemokratie ohne Koran

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Als erster arabischer Staat hat sich nun Syrien als „Volksdemokratie“ proklamiert und den Schritt zur laizistischen Verfassung gewagt, der staatlichen Verfassung das religiöse Fundament entzogen. Die neue, kürzlich durch Volksentscheid angenommene Verfassung räumt zwar dem Islam einen Sonderstatus ein, ruht aber nicht mehr im Islam. Offen muß die Frage bleiben, wie sich dies auf den Konflikt zwischen sunnitischen und schiitischen Syrern auswirken wird — die neue Verfassung spart diese Problematik geschickt aus.

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Als erster arabischer Staat hat sich nun Syrien als „Volksdemokratie“ proklamiert und den Schritt zur laizistischen Verfassung gewagt, der staatlichen Verfassung das religiöse Fundament entzogen. Die neue, kürzlich durch Volksentscheid angenommene Verfassung räumt zwar dem Islam einen Sonderstatus ein, ruht aber nicht mehr im Islam. Offen muß die Frage bleiben, wie sich dies auf den Konflikt zwischen sunnitischen und schiitischen Syrern auswirken wird — die neue Verfassung spart diese Problematik geschickt aus.

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Am 17. April 1946 endete Frankreichs Mandatsherrschaft über Syrien. An diesem historisch so bedeutungsvollen Tag feierten die Syrer mit einem symbolischen Festakt die in langjährigem Kampf wiedergewonnene Freiheit.

Seit jenem Unabhängigkeitstag im Jahre 1946 folgte bis in die Mitte der sechziger Jahre ein Staatsstreich dem anderen. Auch kürzlich kam es innerhalb der Regierung erneut zu Rivalitäten. Wenn diesem unentwegten Ringen einer sozialistisch orientierten Oberschicht um die Macht — vorläufig — ein Ende gesetzt werden konnte, so bedeutet dies nicht, daß damit die enormen innenpolitischen und ökonomischen Probleme bereits endgültig gelöst wären, es heißt aber, daß nun mit der Konsolidierung dieses allzulange zerrütteten Landes begonnen werden kann. Einerseits versuchen die Machthaber in Damaskus zunächst noch nachzuahmen, was ihnen ihre arabischen Brüder am Nil, unter Führung des ehemaligen „starken Mannes“, vorgemacht haben, anderseits lehnen verschiedene Kreise die von Nasser vertretene Annäherung an Moskau und die damit verbundene zunehmende Abhängigkeit von der sozialistischen Führungsmacht ab.

Tatsächlich befindet sich Syriens diktatorische Führung unmißverständlich auf Linkskurs, einem Kurs, der die Gefahr in sich birgt, den jungen Staat zur politischen Enklave Moskaus zu machen, und dies mit allen Konsequenzen.

Die Republik Syrien — flächenmäßig ein wenig größer als die Tschechoslowakei — besteht zu zwei Dritteln aus Wüsten- und Steppengebieten sowie aus einem schmalen, von Mittelgebirgen durchzogenen, fruchtbaren Landstrich, der sich entlang der Mittelmeerküste und des Libanon von Aleppo über Homs nach Damaskus erstreckt. In diesem dichtbesiedelten Landstrich lebt der größte Teil der Bevölkerung, 5 Millionen, die sich aus einem Gemisch verschiedener Völkerschaften zusammensetzen. Etwa 80 Prozent der Bevölkerung leben von der Landwirtschaft, und fast die Hälfte aller Syrer sind Analphabeten.

Hatten die Engländer einst den Franzosen das Land abgetreten, so teilten es diese, unter Protest der Syrer und der ganzen arabischen Welt, in vier Staaten, so daß schließlich der „syrische Staat“ Libanon, der reichste, von den meisten Christen bewohnte und am Meer gelegene Landstrich, und der syrische Staatenkomplex, der sich wiederum aus drei Staaten und dem türkisch redenden Sandschak zusammensetzte, entstanden.

Daß sich der syrische Staatenkomplex in der Folge zum Zentrum des arabisch-nationalistischen Widerstandes entwickelte und sich mit der Zeit durch Aufstände eine Art Selbständigkeit erkämpfte, war wohl, bedenkt man die benachteiligende Teilung, nicht verwunderlich. Hatten doch die Franzosen, die nach dem Antritt ihrer Mandatsherrschaft vielfach recht ungeschickt vorgingen, mit dem Protest der so plötzlich mit Nationalstolz erfüllten syrischen Nation überhaupt nicht gerechnet. Jedenfalls konnte dieser Staatenkomplex 1946 seine Selbständigkeit erlangen. Die Syrer wurden eine selbständige Nation — aber es geschah auch hier das, was im Orient überall geschah, wo man Völkern, die jahrhundertelang unter Fremdherrschaft gelebt hatten, erlaubte, sich selbst zu regieren: sie antworteten ihren, einstigen Beherrschern mit Zorn.

Syrien gehört heute zu der Gruppe arabischer Staaten, in denen nicht mehr mittelalterliche Zustände herrschen. Hier werden als Strafe für Diebstahl keine Hände mehr abgehackt, Ehebrecherinnen werden nicht öffentlich gesteinigt, auch die Haremspforten haben sich für immer geschlossen. Und doch ist das heutige Syrien ein Stück Orient. Ein neuer, verfälschter Orient, der dem französisch-europäischen Vorbild nacheifert. In dieser neuorientalischen Welt lebt die syrische Nation von heute, die ein Gemisch aus panarabischem Imperalismus und französischem Kulturerbe zu einer seltsamen nationalen Ethik pervertierte.

Gegensätze aus Vergangenheit und Gegenwart beherrschen das gesellschaftliche Gepräge der Bevölkerung. Ein großer Teil der Frauen lebt trotz der angeblichen sozialistischen Gesellschaftsordnung von der männlichen Gesellschaft getrennt. Ihnen wird die Gleichberechtigung, obwohl offiziell mit Nachdruck propagiert, nach wie vor vorenthalten, weil ihre Männer sie, getreu islamischer Tradition, behandeln wie zur Zeit des großen Propheten. Allerdings, unter der heranwachsenden Generation wirken sich die Traditionen nicht mehr so stark aus. Es kommt zwar vereinzelt noch vor, daß Frauen verkauft werden, oder daß mehrere Frauen die Ehegemeinschaft mit einem Mann teilen, aber das ist eher bei den Beduinen der Fall, die in den Wüstengebieten leben. Bei ihnen konnten sich die Uberlieferung und die Reinheit des Arabertums bis heute am lebendigsten erhalten.

Die übrige Bevölkerung, besonders jene der Großstädte, zieht es vor, ihre orientalische Umgebung mit importierten Errungenschaften aus dem Westen zu modernisieren. In Damaskus, dessen Neustadt sich zunehmend amerikanisiert, was hinsichtlich des sozialistischen Kurses paradox erscheint, mischen sich orientalische Traditionen mit westlichen Überlieferungen ebenso, wie sozialistische Gewohnheiten mit arabisch-konservativen Sitten. Hier, wo die Reichen und Neureichen leben, präsentiert sich die City in einem prächtigen Gewand. Alles strahlt frische Eleganz aus, die Moderne spiegelt sich in zeitgemäßer Architektur und übermäßigem Reichtum wider. In dieser Stadt, die sich als fette Oase von der dürren Umgebung abhebt, wurde europäische Bescheidenheit von amerikanischem Überfluß in den Hindergrund gedrängt. Wenn nicht die vielen Moscheen den prient verrieten, könnte man meinen, hier sei ein Stück Kalifornien auf syrischen Wüstenboden verpflanzt worden.

In der Altstadt „lebt dagegen noch jene alte arabische Welt fort, wie sie seit Jahrhunderten besteht. Sie ist gleichsam ein lebendiges Museum, in dem alles, was eine bewegte Vergangenheit hinterließ, konserviert wird. In ihren lebendigen Gassen, wo Elend, Laster und Siechtum sich offen zeigen, wird der orientalische Alltag gegenüber dem zeitgemäßen Leben zur Ironie. Hier ist die Herberge der Obdachlosen und der palästinensischen Flüchtlinge, die herumlungern und ihr Dasein mit Gelegenheitsarbeiten fristen. Sie werden vom syrischen Staat nicht angesiedelt und gesellschaftlich integriert, da sie ja den palästinensischen Anspruch auf einen eigenen Staat rechtfertigen sollen. So sind sie hervorragende Brutstätten der sozialen Unzufriedenheit und des Hasses: Geburtsstätten der arabischen Revolu-tiorjskinder, denen das Recht auf Menschenwürde ebenso fremd ist wie die Pflicht gegenüber den Gesetzen.

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