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Volksfront vor der Tür?

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Was für eine gespaltene Linke bis zum Sommer 1972 ein frommer Wunsch war, nämlich noch in diesem Jahrhundert in Frankreich an die Macht zu kommen, rückte — falls man den Meinungsumfragen glauben darf — in den Bereich des Möglichen. Wenn die Volksfront Realität wird, ergibt dies eine gesellschaftliche und politische Umwälzung großen Stils, und zwar nicht nur für Frankreich. Die Kenner der Innenpolitik bemühen sich seit Wochen um die Deutung des Volkswillens, wie er sich herauszukristallisieren scheint, und nehmen das stärkste Element einer eventuellen sozialistisch-kommunistischen Regierung scharf unter die Lupe.

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Was für eine gespaltene Linke bis zum Sommer 1972 ein frommer Wunsch war, nämlich noch in diesem Jahrhundert in Frankreich an die Macht zu kommen, rückte — falls man den Meinungsumfragen glauben darf — in den Bereich des Möglichen. Wenn die Volksfront Realität wird, ergibt dies eine gesellschaftliche und politische Umwälzung großen Stils, und zwar nicht nur für Frankreich. Die Kenner der Innenpolitik bemühen sich seit Wochen um die Deutung des Volkswillens, wie er sich herauszukristallisieren scheint, und nehmen das stärkste Element einer eventuellen sozialistisch-kommunistischen Regierung scharf unter die Lupe.

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Der Begriff „Volksfront“ hat in den freien Teilen Mittel- und Westeuropas einen üblen Beigeschmack. In Frankreich selbst werden die Akzente anders zu setzen sein. Die Koalition von 1936 zwischen Sozialisten, Kommunisten und Radikalsozialisten, und die vorübergehende Herrschaft des Dreiparteiensystems — aus den stark links stehenden christlichen Demokraten (MRP), den Sozialisten und Kommunisten gebildet — brachten der manuell arbeitenden Bevölkerung ohne Zweifel die bedeutendsten sozialen Errungenschaften seit der Bildung einer Industriegesellschaft: Bezahlten Urlaub, allgemeine Sozialversicherung, Anerkennung der Rechte der Betriebsräte. Bedingt durch den Kalten Krieg, und vor allem durch den Staatsstreich in Prag, geriet dann die SFIO in ein deutlich antikommunistisches Fahrwasser. Der Sozialist Ramadier entließ 1947 die kommunistischen Minister aus der Regierung. Der langjährige Innenminister Jules Moch — ebenfalls ein markanter Sozialist — gehörte zu den energischen Verteidigern der pluralistischen Parteiendemokratie. Die totalitären Bestrebungen der KPF bekämpfte er mit allen Mitteln.

Zwar erscholl der Ruf nach einer Einheit der Linksparteien Jahrzehnte hindurch mehr oder weniger überzeugend, aber die ideologischen Gegensätze zwischen den Sozialisten und den Kommunisten waren eben zu groß. Zum erstenmal gelang es Mitterand 1965, als Kandidat gegen de Gaulle fast alle Stimmen der Linken auf sich zu vereinen. Trotzdem mußten wieder Jahre vergehen, ehe eine Annäherung der beiden Arbeiterparteien möglich wurde.

Die KPF gewann sichtlich an Ansehen, als sie in den kritischen Mai-und Junitagen des Jahres 1968 als Faktor der Ordnung gegen den, Linksextremismus auftrat. Dieser wurde übrigens so gut wie ganz von der KPF aufgefangen. Die einstigen Richtungskämpfe im Zentralkomitee ebbten langsam ab. Die letzte Auseinandersetzung, die Krise um den Philosophen Garaudy, konnte ohne Schaden für die Parteieinheit bereinigt werden. Der neue Generalsekretär Marchais, viele Jahre hindurch Dauphin, vermochte in verschiedene, soziologisch abgegrenzte Gruppen einzudringen und erlangte natürlich sehr rasch Sympathien bei den linksstehenden Katholiken.

1972 wurde der lang gehegte Traum der französischen Linken Wirklichkeit. Ein gemeinsames Programm bindet — zumindest provisorisch bis zu den Wahlen im März 1973 — Sozialisten, Kommunisten und den linken, inzwischen selbständigen Flügel der Radikalsozialisten aneinander. Das Programm sucht Hoffnungen bei der Industriearbeiterschaft und bei der technischen Intelligenz zu erwecken. Die Regierungsmehrheit versäumte bisher die Präsentierung eindeutiger Ideologien.Darin sehen wir das wichtigste Motiv für die momentane Dynamik der sich abzeichnenden Volksfrontbewegung. Die Realisierung des Volksfrontprogramms würde wohl Milliarden kosten und die französische Wirtschaft voraussichtlich harten Prüfungen unterziehen. Die Aussagen der Sozialisten und Kommunisten haben jedoch einen großen Vorteil: sie existieren und sie sind klar formuliert.

Mitte Dezember fand der XX. Parteitag der KPF — der zweitstärksten kommunistischen Partei Westeuropas — in einem Pariser Vorort statt. Beim Untersuchen der diversen Rechenschaftsberichte und Interventionen lassen sich gewisse Tendenzen klar ablesen. Die erste Frage stellt sich im Zusammenhang mit einem eventuellen Wahlsieg der Linksparteien. Sie lautet zwangsläufig: Wie weit ist die KPF noch von Moskau abhängig? Wurde sie eine nationale Partei, indem sie die französischen Interessen höher stellt als jene der Sowjetunion? Eine autonome Stellung wie die italienische Bruderpartei nimmt die KPF noch nicht ein. Aber die Zeiten'Sind auf jeden Fall vorbei, in denen Moskau jede innenpolitische und außenpolitische Stellungnahme ausarbeitete und die KPF lediglich Befehlsemp-fähger war.

Würden die Kommunisten, einmal an die Macht gekommen, auf diese — im Falle einer späteren Wahlniederlage — freiwillig wieder verzichten? Dieser Punkt provozierte heftige Diskussionen zwischen Sozialisten und Kommunisten. Die Sozialisten sind nach wie vor zutiefst in den Vorstellungen einer pluralistischen Demokratie verankert. Sie erreichten schließlich bei ihren Gesprächspartnern die formale Anerkennung dieses Prinzips der Demokratie. Die Kommunisten verfügen über 450.000 Mitglieder und einen hervorragenden Apparat; die Sozialisten zählen 80.000 Mitglieder in einem eher rudimentären Apparat.

Könnte eine Volksfront die Außenpolitik Frankreichs radikal verändern, sich in die sozialistische Staatenwelt eingliedern und die Breschnjew-Doktrin anerkennen? Auch diese Überlegungen stehen in Paris zur Diskussion. Allem Anschein nach ist die Sowjetunion kaum oder gar nicht an der Errichtung eines sozialistisch-kommunistischen Regimes in einer VI. Republik interessiert. Auch im Mai und im Juni 1968 setzte der Kreml auf de Gaulle und stufte die französische Diplomatie bis Ende 1972 als konform mit seinen eigenen Interessen ein. Die Kommunisten erklärten unmißverständlich, daß ein Austritt Frankreichs aus der EWG nicht in Frage käme und daß der Gemeinsame Markt als Tatsache unbestritten sei. Trotzdem entstehen Bedenken, inwieweit eine eventuelle Linksregierung die europäischen und atlantischen Verpflichtungen der 5. Republik honorieren könnte und würde.

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