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„Volkswille“ heißt: keine Opfer

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Der in vollem Gang befindliche amerikanische Rückzug aus Südostasien wirft nicht nur außenpolitische Probleme auf, er stellt auch die demokratische Basis des Landes in Frage. Es steht nicht mehr zur Diskussion, wie man die Einbrüche abriegeln und isolieren könnte, sondern ob die amerikanische Demokratie in der Lage ist, mit den sich auf-

türmenden innen- und außenpolitischen Problemen fertig zu werden.

Auf Grund der oft angestellten Meinungsumfragen kann es darüber keinen Zweifel geben, daß der Rückzug aus den vorgeschobenen Positionen in Asien populär ist und von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wird. Das findet natürlich auch seinen Niederschlag im Kongreß. Denn die auf

Wiederwahl erpichten Parlamentarier führen nicht, sie Tassen sich führen. Daraus folgt aber auch, daß die Außenpolitik der in Südostasien verstrickten Regierungen Kennedys, Johnsons und zum. Teil auch Nixons und Fords nicht im Einklang mit den Wünschen der Bevölkerung stand und daher früher oder später scheitern mußte. Nicht so sehr am

Widerstand des Gegners, als an innerer Ablehnung. Hier muß man jedoch hinzufügen, daß es auch keine der Regierungen versucht hat, die Südostasienpolitik der Bevölkerung plausibel zu machen, etwa in der Relation zum eigenen Lebensstandard. Solches würde ja auch der in den Schulen gepredigten Moral zuwiderlaufen. Es wurde daher in Asien wohl ein Limes gegen den

Kommunismus verteidigt, aber niemals daran gedacht, die anstürmenden Kommunisten entscheidend zu schlagen. Das soll hier nicht als ein auf die Dauer unmögliches strategisches Konzept kritisiert werden, sondern als eine Formel, die auch in der Bevölkerung nicht populär werden konnte.

Nun werden jene, die darüber froh sind, daß das Engagement in Asien zu Ende geht,- auch die Weisheit des demokratischen Systems loben, weil bekanntlich der Wille des Volkes nicht nur souverän, sondern angeblich auch Weise ist. Diese Auffassung erweist sich allerdings als fundamental falsch, wenn man das Wohlergehen der Nation über eine gewisse Periode hinaus als das wahre Kriterium der Demokratie ansieht. Daß in der heutigen Stimmung der „amerikanische Volkswille“ eine Rücknahme weiterer Positionen — nicht nur aus Asien — wünscht, ist fühlbar und erkennbar. In die Tat umgesetzt, würde das jedoch eine Existenzbedrohung bedeuten, die nicht das Ziel einer Demokratie sein kann. Es geht bei diesem „Volkswillen“ auch nicht um die dumpfe Furcht, es könnten Menschen und Resourcen an der Peripherie vergeudet werden, sondern, brutal ausgedrückt, Um die Weigerung, geistig oder physisch für ein gemeinsames Ziel Opfer zu bringen. Nicht die Sorge um das Wohlergehen der Nation hat den Rückzug aus Asien erzwungen, sondern der Mangel an Bereitschaft, in den Dschungeln von Asien seinen Kopf zu riskieren und, nachdem dieser durch Nixons und Kissingers Außenpolitik aus der Schlinge befreit war, die Knausrigkeit, als es darum ging,

asiatische Söldner zu bezahlen, die Amerikas Position vermutlich noch einige Jahre lang hätten halten können. Was hätte sich während dieser Zeit innerhalb der kommunistischen Welt nicht alles ändern können! Die egoistische und kurzsichtige Einstellung fand dann ihre Verbrämung durch klingende humanitäre Floskeln, wie es ja für alles ein Lied gibt, für den Rückzug wie für den Vormarsch. Wesentlich bei dieser Analyse ist jedoch, daß die Sorge um den eigenen Wohlstand sich als stärker erwies als das Interesse an der res publica. Nebenbei dämmert auch auf, daß die so oft verdammte Politik Roosevelts, der halb Europa nach dem Zweiten Weltkrieg dem Kommunismus preisgab, vielleicht gar nicht so unrealistisch war. Jedenfalls könnte man sich heute nicht vorstellen, daß amerikanische Divisionen Polen oder den Balkan verteidigen würden...

Der Zersetzungsprozeß der amerikanischen Demokratie durch ein egoistisches Wohlstandsdenken erfolgt jedoch nicht nur bei der Wahrnehmung außenpolitischer Interessen. Er ist im Inneren des Landes womöglich noch stärker ausgeprägt. Denn hier wird der Kuchen verteilt und um Kuchen geht es ja primär. So ist der Millionär, der unter Ausnützung aller Gesetzeslücken keine Steuern bezahlt, die klassische Krampusfigur der Commedia Americana. Es wird gebührend vermerkt, daß so ein „Typ“ — es mögen davon vielleicht einige Hundert existieren — sich außerhalb der Gesellschaft stellt, obwohl zugegeben wird, daß er sich durchaus im Rahmen der Gesetze bewegt. Es fragt sich aber, ob Millionen von portorikanischen Rentnern, und zwar solche im arbeitsfähigen Alter, die von der Öffentlichkeit erhalten werden, innerhalb der Gesellschaft stehen. Oder wo stehen eigentlich große Bevölkerungsgruppen, die sich durch den Stimmzettel einen Lebensstandard gesichert aber nicht erarbeitet haben, einen Standard, für den jene aufkommen müssen, die härter und erfolgreicher arbeiten? An diesen Strukturproblemen droht die amerikanische Demokratie zu scheitern. Solange für alle genug „Kuchen“ da ist, schert man

sich weniger um die Verteilung und um das, was davon ins Ausland geht. Da die Lage jetzt aber auch noch durch eine' Rezession verschärft ist, steht die Erhaltung des bisherigen Lebensstandards obenan.

Man muß sich daher Gedanken darüber machen, ob ein solches System, geschichtlich gesehen, .überleben kann. Ob es gegenüber dem marxistischen Totalitarismus beste-: hen kann, der in der Lage ist, einen Großteil der verfügbaren Kräfte und Resourcen zu mobilisieren und divergierende Bestrebungen zu unterdrücken. Man verweist immer auf die Kraft der Demokratie im Zweiten Weltkrieg. Man übersieht aber, daß sich die Demokratien damals Selbstbeschränkungen auferlegten, daß sie sich um Gestalten sammelten, denen sie Verantwortung ein^ räumten, während man heute einen Präsidenten aus dem Weißen Haus, jagt. Es war auch eine andere Generation, die den Zweiten Weltkrieg bestand. Aufgewachsen unter den Entbehrungen der ersten, . Nach“ kriegsjähre, gestählt im harten Konkurrenzkampf des amerikanischen Frühkapitalismus, war sie eher bereit, für Ideale zu opfern, als eine Generation, die ab ovo dem Staat einen Großteil der Sorgen um die eigene Existenz aufbürdet. Ob es. aus dieser Situation wieder einen Aufstieg geben kann? Wohl kaum innerhalb des jetzt herrschenden. Systems. Ein Wiedererstarken des Amtes des Präsidenten wäre eine unabdingbare Voraussetzung, doch zeichnet sich eine solche Entwicklung derzeit weder personell noch trendmäßig ab. Potentiell positiv ist, daß im Rahmen ,der amerikanischen Verfassung eine Stärkung der Präsidentschaft durchaus möglich ist und daß ein Prozeß der inneren Konzentration daher organisch und nicht abrupt erfolgen kann. Ob sich jedoch die Bevölkerung aus dem vorherrschenden Konsumdenken von einem stärkeren Präsidenten auf nationale Ziele hinführen läßt, bleibt nach allem, was man in den letzten Jahren erlebt hat, bestenfalls zweifelhaft.

Vielfach erkennen Völker ihren historischen Weg erst, wenn es bereits zu spät ist.

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