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Sind wir heute ehrlicher als früher?
Wer heute sehr Persönliches in die Öffentlichkeit trägt, etwa seine Veranlagungen, Eheschwierigkeiten, allenfalls einen Partnerwechsel, erregt Aufmerksamkeit und bekommt oft das Lob, besonders ehrlich zu sein. Früher hätte man ja solches nach außen möglichst geheimgehalten, ein typisches Zeichen „bürgerlicher Moral“, wie manche sagen.
Wer könnte schon gegen mehr Ehrlichkeit sein? Um der Wahrhaftigkeit willen ist aber auch folgendes zu bedenken.
Früher wurden viel weniger Ehen geschieden als heute. Innerlich seien dennoch viele zerbrochen gewesen, man habe Konflikte aber lieber „unter den Teppich gekehrt“.
Wie weit ist das wahr? Scheidung war schwerer als heute: durch die wirtschaftliche Abhängigkeit (meist der Frau), durch gesellschaftliche Ächtung, ein strengeres Scheidungsrecht. So gab es wohl tatsächlich auch eheliche Gemeinschaften nur dem „Scheine“ nach.
Aber hatten damals nicht auch viele Ehepartner in der Krise, gerade weil nicht gleich ein Schlußstrich in der Öffentlichkeit gesetzt wurde, mehr Gelegenheit, Wege der Aussöhnung zu suchen?
Und viele haben sie tatsächlich auch gefunden.
Heute erklären Prominente „mutig“ in der Öffentlichkeit, sie haben sich von ihrem Partner getrennt und bekennen sich gegebenenfalls zu jenem ihrer neuen Wahl. Ob das schon „ehrlich“ genug ist? Wie ehrlich war man sich selbst gegenüber bei der Prüfung der Motive?
Oder weiß man nicht vom Blick auf andere (da sieht man ja klarer!) wie leicht sich jemand selbst belügt? Wie ehrlich sah man das Schicksal des zurückgelassenen Partners, vor allem auch der Kinder? War der Schritt in die Öffentlichkeit nicht vielleicht die vorschnelle, sich selbst rechtfertigende Flucht aus einer Situation, die mit mehr Bereitschaft zur Einsicht eigener Schuld und zur Versöhnung noch heilbar gewesen wäre?
Der Gesellschaft steht es nicht zu, Richter über persönliche Entscheidungen zu sein. Genausowenig aber bedeutet öffentliche Akzeptanz einen Freispruch von persönlicher Schuld.
Man redet heute über viele heikle Bereiche offener als früher, und das ist gut.
Ich wage aber zu bezweifeln, ob wir dadurch alle auch schon wirklich ehrlicher geworden sind.
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