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Volle Tröge, leere Regale

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Die sowjetische Landwirt- schaft liegt am Boden. Angebaut wird genug, doch durch schlechte Qualität und verdorbene Lagerbe- stände landet ein großer Teil der Ernte im Schweinestall.

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Die sowjetische Landwirt- schaft liegt am Boden. Angebaut wird genug, doch durch schlechte Qualität und verdorbene Lagerbe- stände landet ein großer Teil der Ernte im Schweinestall.

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Wie so oft in der Vergangenheit sollen auch heuer Soldaten ihre Kasernen, Arbeiter ihre Fließbän- der und Studenten ihre Bibliothe- ken verlassen, um bei der Ernte zu helfen. Doch selbst wenn sich die gesamte Sowjetarmee in die vielzi- tierte „Ernteschlacht an der Ge- treidefront" wirft - das Fiasko ist nicht mehr aufzuhalten: Rußland steht an der Schwelle einer Hun- gersnot - trotz Rekordernte. In den Baumwollrepubliken Mittelasiens verhungern bereits Säuglinge und Kleinkinder. In entlegenen Gegen- den Rußlands gibt es derzeit kein Mehl, einmal in der Woche wird ein Laib Brot pro Person verteilt. Andere Lebensmittel sind kaum erhältlich.

Die „Ernteschlacht" scheitert heuer nicht nur an der „Unlust" der Bevölkerung. Kürzlich berichtete die „Prawda", daß ein Viertel der Mähdrescher nicht ausfahren kann, weil notwendige Reparaturen man- gels Ersatzteile nicht durchgeführt werden können. Außerdem man- gelt es an Treibstoff - die Ölförde- rung sinkt, die Pipelines sind leck. So fehlen derzeit auf den Kolcho- sen (Kollektivgüter) und den Sow- chosen (Staatsgüter) Hunderttau- sende Tonnen Treibstoff.

Die sowjetische Landwirtschaft gleicht einem Faß ohne Boden; al- lein in den letzten 30 Jahren wurde eine Billion Rubel hineingeworfen. Oder anders gerechnet: für fünf Rubel Investition steht ein Rubel Ertrag! Den 48.000 Kolchosen und Sowchosen machen obendrein Bankkredite in der Höhe von 145 Milliarden Rubel das Leben schwer. Ein Volksdeputierter schlug des- halb vor, das Land „gratis" an die Bauern zu verteilen. Der Staat solle froh sein, diesen Defizitträger end- lich los zu werden.

Die stümperhafte Agrarpolitik - der Gigantomanie verpflichtet und ökologisch imbedacht - hat weite Flächen unfruchtbar gemacht: 41 Millionen Hektar Ackerfläche sind verwässert, 52 Millionen übersäu- ert und 93 Millionen versandet. Die heimische Produktion von Weizen ist innerhalb der letzten vier Jahre um 20 Millionen Tonnen gesunken. Bisher konnten Weizeneinkäufe im Westen immer noch das Schlimm- ste abwenden. Im Vorjahr impor- tierte der Staat 44 Millionen Ton- nen Weizen; insgesamt wurden für Nahrungsmittelimporte 150 Mil- liarden Schilling ausgegeben. Da das Deviseneinkommen des Staa- tes aufgrund der schleppenden Ölverkäufe sinkt, steht in diesem Jahr Geld für Weizenimporte le- diglich in der Höhe von 20 Millio- nen Tonnen bereit. Deshalb will auch die Sowjetregierung von den USA einen Brotkredit in der Höhe von umgerechnet 20 Milliarden Schilling gewährt bekommen. Man spricht von „leihen", aber es ist doch wohl eher ein „schenken".

Um kein falsches Bild entstehen zu lassen: Trotz aller Schikanen pro- duzieren die sowjetischen Bauern ausreichend Getreide. Nach offi- ziellen Statistiken sogar doppelt soviel wie ihre amerikanischen Kol- legen. Aber wegen Überdüngung mit Chemiedünger, schlechter kli- matischer Bedingungen und man- gelhafter Lagerung ist ein beträcht- licher Teil des Getreides für menschlichen Konsum ungeeignet. Da die Viehfuttererzeugung sowie- so nicht ausreicht, landet das So- wjetgetreide oft in den Trögen der Kühe und Schweine. Nicht nur, daß jeder russische Brotlaib zu einem Drittel Importware ist: Die UdSSR verliert jedes Jahr durch den Wei- zentransport Unsummen, weil Dut- zende ausländische Frachter für den Transport angemietet werden müs- sen. Im Vorjahr wurden auf diese Weise 20 Millionen Dollar an knap- per Westwährung vergeudet.

Um den monetären Sargnagel „Weizenimport" loszuwerden, werden die Denker im Kreml ein- fallsreich. Im Vorjahr verkündete die Regierung großspurig, daß man den Bauern ihre Überschüsse für Devisen abnehmen möchte. Voraus- setzung: das Produktionsniveau der vergangenen Jahre wird eingehal- ten. Die Bauern rieben sich die Hände, die Medien frohlockten. Die Region am Don erwartete eine Rekordernte. Die Bauern wollten der Regierung Überschüsse im Wert von 70 Millionen Valutarubel ver- kaufen. Letztendlich aber wurde nur ein Zehntel der angekündigten Menge - trotz reicher Ernte - gelie- fert. Wie das ?

Noch während die Bauern lach- ten, wieherte laut der Amtsschim- mel: Die lokale Agrarbehörde hatte verordnet, daß die Bauern nur ein Drittel der Devisen für den Kauf von Konsumgütern ausgeben dür- fen. Eine Kolchose hatte Uberschüs- se für 60.000 Valutarubel verkauft, wurde aber dadurch um nichts wohlhabender. Die staatliche Brot- export-Gesell- schaft schickte den Kolchosbau- ern eine dünne Broschüre mit westlichen Kon- sumgütern zu saftigen Über- preisen. Sollte einer trotzdem an den Kauf ei- nes Videogerätes gedacht haben, ließ ihn die Au- ßenhandelsge- sellschaft wis- sen, daß sie ein Drittel des Wa- renwertes für „Spesen" kassie- ren werde. Also beschlossen die Kolchosmitglie- der, das Geld auf die Bank zu tra- gen. Dort ereilte sie die nächste böse Überra- schung: für Va- lutarubelkonten werden keine Zinsen gezahlt!

Da das Expe- riment im ganzen Land ähnlich verlief, konnte die Regierung statt der erwar- teten Lieferun- gen in der Höhe von 700 Millio- nen Valutarubel nur für zehn Mil- lionen Weizen im eigenen Land aufkaufen.

Den Bauern wird immernoch alles von oben diktiert: was, wo, wieviel und wann zu säen ist, wieviele Kühe und Schweine zu halten sind, wie und wohin die Erzeugnisse ver- kauft werden. Neben einem Schwall von Verordnungen werden die Landarbeiter auch noch mit Lei- tern konfrontiert, die servil nach oben buckeln und den gesunden Hausverstand der Bauern ignorie- ren. Dimitrij Starodubzew, erfolg- reicher Kolchosleiter und Volksde- putierter: „Die Praxis hat bewie- sen, daß das größte Übel von der Einmischung inkompetenter Orga- ne kommt." Starodubzew landete in der „Ära der Stagnation" im Ge- fängnis, weil er Befehle von „oben" ignoriert hatte und eigenmächtig Verbesserungen auf seiner Kolcho- se durchgeführt hatte.

Heute dürfen die Kollektivwirt- schaften experimentieren. So wur- den im landwirtschaftlichen Be- trieb „Sawety Lenina", unweit von Moskau, im Vorjahr Aktien ausge- geben, obwohl es diese in der UdSSR offiziell noch gar nicht gab. Die „Aktien" waren deshalb auch nur für den internen Gebrauch be- stimmt. Der Sinn des Unterfangens: Die Landarbeiter sollten vom lohn- fixierten Denken wegkommen und mehr Interesse an der Pflege des „Eigentums" bekommen. Binnen eines Jahres waren auch zwei Drit- tel der Mitarbeiter „Aktieneigen- tümer". Der Leiter des Betriebes wurde von ihnen zu immer neuen Investitionen angetrieben: der Schweinestall sollte saniert, eine Sauna gebaut werden... Noch wird fleißig in den Betrieb investiert. Aber eine endlose Geschichte kann das nicht werden. Wenn die Bauern etwas für den Privatkonsum kau- fen wollen, sind die Scheine fak- tisch wertlos. Andere Betriebe sind dem Beispiel von „Sawety Lenina" schon deshalb nicht gefolgt, weil Kapital - egal ob in Form von An- teilscheinen oder Banknoten - in einem Land mit chronischem Wa- renmangel wenig Reiz besitzt.

Siebzig Jahre lang mußten die Bauern entweder als Versuchska- ninchen für agrarpolitische Expe- rimente oder als Sündenböcke für systemimmanente Krisen herhal- ten. Jetzt, wo das landwirtschaftli- che Erbteil endgültig verspielt ist, heißt es: nur ein „privater" Bauer ist ein „guter" Bauer!

Ende August verkündete Wladi- mir Tichonow, Agrarexperte und Akademiemitglied, in einem aufse- henerregenden Artikel in „Moscow News", daß neun Millionen private Bauern das Land vor dem Ruin retten könnten. Die Wurzel des Übels, so Tichonow, wären die Kolchosen und Sowchosen, die das „System der Leibeigenschaft" er- halten wollen. Schon im Frühjahr 1989 hatte der Oberste Sowjet ein Gesetz über den Boden verabschie- det, die Bauern sollten wieder Her- ren der Scholle werden. Aber der Erlaß hatte einen Haken: Die Kol- chosen und Sowchosen sollten als Verpächter fungieren, obwohl sie selber nicht die Besitzer des Bodens sind. In der Folge entbrannte zwi- schen ihnen und den potentiellen Pächtern ein erbitterter Kampf.

Auch der Sowjetologe Michail Voslensky sieht in der Landwirt- schaft den Stolperstein für Gorba- tschows Reformen. Er sei, so Vos- lensky, entweder „zu schwach oder zu feige", den entscheidenen Schritt zu tun. Nämlich: die Kolchosen auflösen und sie zu echten Genos- senschaften machen, „die den Ge- nossenschaften wirklich gehören, nicht dem Rayonskomitee!"

Der Kremlchef brachte es jeden- falls bislang nicht über sich, seine geistigen Väter zu verabschieden.

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