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Vom alten Dada zur „Wahnkunst“

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Kunstsammler und -kenner müssen schon tief Luft holen. Denn was es jetzt im Wiener Museum des 20. Jahrhunderts zu bestaunen gibt, ist wirklich nur einmal im Jahrzehnt in Wien zu sehen. Die Weltstars des Surrealismus und einzelner mehr oder minder Verwandter aus den Randzonen paradieren da: Jean Arp, Bellmer, Brauner, Breton, de Chirico, Dali, Delvaux, Du-champ, Miro, Picasso, Schwitters, Tanguy... 62 Meisterwerke mit einem Versicherungswert von fast 130 Mü-lionen Schüling. Sie wurden vom International CouncU aus den Sammlungen des New Yorker Musem of Modern Art zusammengestellt und nun

Wien; Düsseldorf, Brüssel, Zürich und Oslo folgen zunächst

Dabei ist diese wunderbare Sammlung nur ein Teü der New Yorker Sammlung. Denn viele Hauptwerke, wie etwa Marcel Duchamps „Large Glass“, trauen sich die New Yorker wegen der Gefahren des Transports gar nicht auf Reisen zu schicken, wie sie auch einige ihrer kostbarsten Meisterwerke nicht aus der ständigen Surrealismus-Sammlung entfernen wollen.

Was man geschickt hat, wül natürlich keine komplette Surrealismus-Dokumentation sein. Es hat vielmehr den Charakter einer faszinierenden Privatsammlung, mit Akzenten da und dort, wie diese kostbaren Werke zum Teü auch von Sammlern geschenkt, zum Teü durch Tauschgeschäfte oder Ankäufe aus dem Fonds in den Besitz des Museums gekommen sind.

Was in der Ausstellung ein wenig verloren geht, ist die rabiate politische Besessenheit der Surrealisten, mit ihrer Zeit den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, aufzuräumen. Ist auch das Engagement dieser Kulturrevolution, nicht Stil zu werden, nicht Dekorationskunst zu schaffen, sondern eine Geisteshaltung zu propagieren, die radikal die Zertrümmerung aller bestehenden Ordnungen forderte: Vom Bewerten bürgerlicher Kunst über die Ordnung bürgerlicher Welt bis zur Entfesselung des schlummernden Unterbewußten, dessen Kräfte die Surrealisten, vor allem Breton, beim berühmten Dr. Charcot und dann bei Sigmund Freud kennengelernt hatten. Gipfelpunkt dieser auch theoretisch fundamentierten Entwicklung: die Verherrlichung des Nichts durch Ara-gaon; die Verherrlichung des Traums und des Wahnsinns als schöpferische Kraft (Salvador Dalis Paranoia-Ästhetik führt dahin); Bretons Flucht in das automatische Schaffen und in die Zerstörung der Harmonie zugunsten der Vereinigung des Unvereinbaren, das er beim großen Vorbüd, dem Dichter Lautreamont, gelernt hatte.

Die Ausstellung im Schweizergarten holt dabei etwas aus. Einzelne Werke gehören noch jener leidenschaftlichen Äntikunst-Bewegung des Zürcher und Kölner Dadaismus zu (wie Schwitters und Hannah Hoch), anderes der pittura metafisica (wie Giorgio de Chirico), wieder anderes der symbolischen Traumbüderwelt eines Delvaux ...

Das Schwergewicht liegt aber natürlich auf den beiden Hauptstömungen im Surrealismus: dem „Automatismus“ und der „Traumwelt“. Was wollten die Surrealisten Europas damit? Automatismus sollte eine Befreiung vom Zweck bringen, die Kräfte des Unterbewußten provozieren. Arp,

da. Der Weg zum abstrakten Expressionismus und zur Actionpainting wurde über und durch sie frei. Und Amerika bekam seine Chance, mit europäischer Hüfe erstmals selbst in der Kunstentwicklung schrittmachend mitzuwirken. Denn die Großen der europäischen Kunstszene, Matta, Masson, Breton, Levi-Strauss, Tanguy, Chagall, Leger, Mondrian, Lipchitz, Dali, Duchamp und so viele andere flohen zwischen 1939 und 1942 in die USA Und die Auseinandersetzung mit ihnen bedeutete, „an die wesentlichste Tradition der Kunst des 20. Jahrhunderts Anschluß zu finden und dadurch Teü jener Reihe von künstlerischen Revolutionen zu werden, die sich bis zu Cezanne und Manet zurückverfolgen lassen“, schreibt Robert Goldwater in seinen „Reflec-tions“.

Amerika hatte dank der anreisenden Surrealisten erstmals internationale Erfahrungen mit der Moderne. Es lernte, holte enorm schnell auf. Bald sollten faszinierende Amerikaner, wie Arshüe Gorky, im Surrealismus ihren Führungsanspruch geltend machen. Und da stehen ein paar Werke der Ausstellung stellvertretend für diese Entwicklung.

Der zweite große Strom, den Amerika durch den europäischen Surrealismus kennenlernte, war die Entdek-kung der Traumwelt Und er ist besonders reich dokumentiert Sogar mit Schlüsselwerken. Dali, Magritte, Delvaux, Lam, Matta, Tanguy - ein Spektrum jener weiten Räume, der Seelenlandschaften, in denen Erinnerungen an die Welt sich verformen, verfließen... zu Neuem, Gewagtem, zu erstaunlichen Mischformen und Bizarrem. Es ist die Malerei und Plastik, die den Surrealismus als „phantastischen Stil“ populär und lange Zeit auch schockierend gemacht hat Arnulf Rainer, Tausendsassa unter den prominenten österreichischen Malern, einer der immer wieder durch seine Kapriolen (positiv) überrascht zeigt eine neue Facette seiner Arbeiten: „Fußmalerei und Handgeschmiere“ nennt er die in der Galerie Curtze (Grünangergasse 12) ausgestellten Büder und Blätter, die man am ehesten aus ihrer Nähe zur guten alten Actionpainting versteht. Versuche, Farbe mit den Fingern, mit den Händen, mit den Füßen aufzutragen, mit viel Dynamik einzureiben oder auf der Fläche zu verteüen und diese Dynamik im Büd spürbar werden zu lassen. Ob Rainer damit Neues macht? Uber seine letzten Versuche, Fotografien durch solche dynamischen Prozesse neuzugestalten, kommt er damit keinesfalls hinaus.

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