6997823-1987_15_01.jpg
Digital In Arbeit

Vom Dulden zur Toleranz

Werbung
Werbung
Werbung

Die geistige Grundhaltung der Toleranz ist eine jener Grundtugenden, die, rechtlich kaum erzwingbar, die Qualität des Lebens innerhalb einer Gemeinschaft, von der Familie bis zum Staat, entscheidend bestimmen. Voraussetzung hiefür aber ist wohl, daß sie über das Gefühlsmäßige hinauswächst und auf eine klare Konzeption dessen begründet ist, worin die Geisteshaltung der Toleranz besteht.

Wenn das Wort „tolerare“ ursprünglich nur auf das Erdulden und Ertragen eines anderen Menschen oder einer anderen Gesin-

nung abgestellt war, so hat Johann Wolf gang von Goethe schon in seinen „Maximen und Reflexionen“ darauf hingewiesen, daß die Toleranz dieses Inhalts nur eine vorübergehende Gesinnung sein soll, welche auf ihrem konsequenten Weg zur Anerkennung führen müsse. Denn dulden, so meinte Goethe, heißt in Wirklichkeit beleidigen.

Diesen Weg vom Dulden und Ertragen des anderen zur Anerkennung des Rechtes, anders zu sein und anders zu denken oder auch eine andere Wertskala des Lebens als bindend anzuerkennen, sind viele nicht mitgegangen und auch heute noch nicht bereit mitzugehen. Sie sind auf der Ebene des Duldens und manchmal des Erduldens stehengeblieben.

Und doch scheint es mir unerläßlich, sich zu dieser Begriffsänderung durchzuringen. Denn nur in dieser Auffassung von Toleranz kommt der Respekt vor dem gottgewollten freien Willen des Menschen und damit auch die Achtung vor der Individualität jedes einzelnen Menschen zum Ausdruck.

Eine solche Interpretation der Tugend der Toleranz ist keineswegs ein Abgleiten in einen Indifferentismus, also in eine Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit oder gegenüber der Uberzeugung von der Richtigkeit eigener Werte.

Es ist nicht nur eine Erfahrung des täglichen Lebens, daß der weise, der innerlich gefestigte und von- einer starken Uberzeugung getragene Mensch weit eher die Kraft aufbringt, den Mitmenschen anderer Uberzeugung zu respektieren, sondern es ergibt sich diese Feststellung der Vereinbarkeit zwischen eigener Uberzeugungskraft und Toleranz auch aus der Erfahrung, daß sich tragfähige Brücken eben nur von festen Ufern aus bauen lassen.

In der Tat, es entsteht in unserer Zeit manchmal der Eindruck, daß das Toleranzdefizit, das wohl noch sehr vielseitig gegeben ist, seinen tiefen Grund und seine Ursache eher in einem Defizit einer klaren eigenen Uberzeugung und einer klaren eigenen Wertordnung hat.

Uber ein Problem beim Wachsen der Toleranz zu einer geistigen Grundhaltung darf jedoch nicht stillschweigend hinweggegangen werden: Es ist das Problem der Grenzen der Toleranz.

Wo die Tugend der Toleranz ihr Ende findet und wo die sittliche Pflicht zur Auseinandersetzung beginnt, ist und bleibt wohl eine Entscheidung, die der einzelne aus seiner staatsbürgerlichen, aus seiner sittlichen und, für viele damit verbunden, auch aus seiner religiösen Verantwortung heraus im Einzelfall treffen muß.

Es mag eine Entscheidungshilfe sein, daß das Gebot auf die Geisteshaltung der Toleranz abgestellt ist, die Grenze der Toleraiiz aber die Ausnahme von dem Gebot darstellt.

Gedanken über die Toleranz können aber wohl kaum ohne Selbstprüfung abgeschlossen werden, wie es denn mit dem Klima der Toleranz in unserem Lande stehe.

Die Diagnose mag bei einer Beurteilung der Situation im Staate, in der jüngsten Zeit auch in der Kirche, im kulturellen Leben ebenso wie im allgemeinen zwischenmenschlichen Bereich, nach Graden verschieden sein. Zu einer Aussage, daß ein echtes Klima der Toleranz umfassend bestehe, wird aber wohl kaum ein sachlicher Grund gegeben sein.

Wir werden uns wohl stärker, als wir dies bisher getan haben, mit dem Gedanken vertraut machen müssen, daß nicht nur die Politiker, nicht nur Bischöfe und Priester und nicht nur die im öffentlichen Leben Stehenden die Verantwortung für die geistige Situation des Staates, der Kirche und des Volkes tilgen, sondern daß jedem einzelnen Mitverantwortung auferlegt ist, eine Mitverantwortung, der er in der Gestaltung seines eigenen Lebens Rechnung tragen muß.

Es schiene mir daher wenig sinnvoll, zur Uberwindung des Toleranzdefizits, das gegeben ist, den Finger zu erheben und auf andere zu zeigen, sondern jeder einzelne muß sich wohl entschließen, so wie andere Tugenden des zwischenmenschlichen Zusammenlebens, auch Toleranz vorzuleben, über Toleranz nachzudenken und von der Toleranz als einem köstlichen Gut auch zu reden.

Nur so wird es wohl möglich sein, eine wirklich umfassende Erziehung zur Toleranz Wirklichkeit werden zu lassen, die—wie alles, was für das Leben von hohem Wert ist - in der Familie beginnen und sich bis zum Gesamtstaat fortsetzen muß. Denn nicht nur der Friede beginnt im eigenen Haus, auch die Toleranz beginnt hier.

Aus einem Vortrae des ehemaligen Bundespräsidenten aus Anlaß des Festaktes - 25 Jahre Uons Club St Pölten“ .

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung