7071938-1993_04_08.jpg
Digital In Arbeit

Vom Ertragen des Unerträglichen

Werbung
Werbung
Werbung

Bekannt, wenngleich nicht allbekannt, ist Marie-Therese Kersch-baumer schon seit ihrem Romanerstling „Der weibliche Name des Widerstandes” (1976), dem ein Band „Gedichte” vorangegangen und erzählerische sowie essayistische Prosa nachgefolgt war. „Die Fremde” beginnt, auf mehrere Teile geplant, als Darstellung ihres Innenlebens in der Kindheit und Jugend, mit biographischen Anhaltspunkten, denen die ungewöhnliche Beschwerlichkeit eines Lebensweges abzulesen ist.

1936 in Paris als Tochter einer Wienerin und eines Kubaners spanischer Abstammung geboren, 1939 in das Herkunftsland Tirol der Mutter gebracht, in die total fremde Heimat also, wo sie - beinahe möchte man sagen: natürlich - als „Die Fremde” gelten mußte und sich auch demgemäß fühlte. „Das Kind hieß von Rechts wegen Marie Josd Mercedes Barbara de la Torre del Bordo y Reinthaler”, und das konnte, als sie „in der kleinen Gebirgsstadt aufgetaucht” war, nicht gut gehen. Sie wurde, umständehalber sowohl vater- als auch mutterlos, eine Fremde in solcher Fremde. „Sie hieß vorerst Barbarina und strotzte vor Gesundheit und Farben, braun, rot und gelblich”, war also nicht tirolerisch strotzend und wurde somit den „Gebirglern”, was sie die ganze Kindheit und auch nachher blieb, eben: „Die Fremde”.

Wie aus jener Barbarina - nach Haupt-, Berufsschule und Fremdarbeiten - in viel späterer Zeit nach Abendmatura, Sprachenstudium,

Aufenthalten in Rumänien und Italien sowie der Übersiedlung 1971 nach Wien die Autorin und Übersetzerin Marie Therese Kerschbaumer wurde, das wird erst in den folgenden Teilen des Werkes zur Sprache kommen. Jawohl, zur Sprache: denn es liegt eine aus Erlebnissen, die überlebt (im Sinne von: überstanden) werden mußten, sorgfältig gefilterte Sprachschöpfung vor, mit absolut eigenartiger und eigenständiger Rhetorik vorgetragen.

Das Befremdende.

Im letzten der fünf Hauptabschnitte wird das Erzählen zur schier atemlosen Aufzählung zahlloser Einzelheiten, „woran sichkei-ner außer dem Kind erinnert”, schon darum nicht, weil man alles anderen Menschen übel Angetane üblicherweise aus dem Gedächtnis verliert, genauer gesagt: lieber verdrängt. Punktlose Satzfolgen über Dutzende von Seiten hinweg assoziieren nun aus den Tiefen des Unterbewußten und machen sich und uns das Befremdende bewußt.

Das Werk erweist sich aber, literaturkritisch betrachtet, nicht als sogenannte Polemik, es klingt fast wie eine Beichte: ein Opfer gesteht die Sünden der Mitwelt; selbst die Klagen sind artistisch bewältigt, und die eigentlich gehörige Anklage bleibt dem Leser überlassen, seinem Sprachgehör und vor allem seinem Gewissen. Eine Kindheitsgeschichte vorläufig; sie bricht um 1950 ab, wenn die 14jährige „Lösegeld” gezahlt hat, und „Eine Flucht” beginnen kann.

DIE FREMDE. Von Marie-Th6rese Kerschbaumer. Wieser Verlag, Klagenfurt/ Salzburg 1992. 243 Seiten, öS 278,-.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung