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Vom Fortschritt bedroht

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Unsere gegenwärtige Situation wird von einem tief sitzenden Kulturpessimismus unterlagert, der allerdings durch die verschiedensten Dinge überdeckt ist.

Es ist dabei nicht einfach ein „Tanz auf dem Vulkan“, sondern eher das Gefühl einer langsam zerrinnenden Realität, ein Gefühl, daß der Strom des Lebens auf ein Ende zutreibt und diese Katastrophe unaufhaltsam ist. Nietzsches Sätze in der Vorrede zu seinem Buch „Der Wille zur Macht“ beziehen sich zwar auf die Heraufkunft des Nihilismus, geben jedoch das gegenwärtige Grundgefühl recht genau wieder:

„Diese Geschichte kann jetzt schon erzählt werden: denn die Notwendigkeit selbst ist hier am Werke. Diese Zukunft redet schon in hundert Zeichen, dieses Schicksal kündigt überall sich an; für diese Musik der Zukunft sind alle Ohren bereits gespitzt. Unsere ganze europäische Kultur bewegt sich seit langem schon mit einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, wie auf eine Katastrophe los; unruhig, gewaltsam, überstürzt, einem Strom ähnlich, der aus der Erde will, der sich nicht mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen.“

Sicherlich ist es keineswegs mehr allein ein möglicher Atomkrieg, der da Angst macht, denn die Umweltproblematik wirkt wie ein solcher Krieg in kleinen Raten. Zwar gibt die Situation in der Sowjetunion echte Hoffnung, doch ist dort die Auseinandersetzung um den neuen Kurs noch keineswegs ausgestanden. Erst recht nicht um die Umweltproblematik. Diese ehrlich in den Griff zu bekommen, gibt es kaum eine Chance.

Da gibt es eine tiefe Angst, die man betäuben möchte und die man so vor sich selbst verdeckt. „Sich nicht mehr besinnt...“

Wenn ich von Drogen spreche, mit denen man zuzudecken versucht - gegen die zum Bewußtsein drängende uneingestandene Wahrheit braucht man dabei immer größere Dosen —, so meine ich dabei keineswegs nur jene chemischen Substanzen, die bewußtseinsverändernd wirken, von Alkohol bis Kokain, sondern auch die vielen anderen Möglichkeiten der Selbstbetäubung. Hie-zu gehören übermäßige Arbeit ebenso wie sexuelle Exzesse, übertriebener Sport und vieles mehr.

Der all diese Selbstbetäubungen unterlagernde Kulturpessimismus, der jede echte und produktive Anstrengung als sinnlos erscheinen läßt, ist sehr ernst zu nehmen. Er steht als ernster Einwand auch der Bereitschaft entgegen, Kinder zu zeugen und aufzuziehen, „die ohnehin nichts Gutes erwartet“.

Es ist allzu billig, eine solche Einstellung bloß als Rationalisierung der Bequemlichkeit anzusehen, so, als ob ihr kein echter Wahrheitsgehalt innewohnen würde.

Tatsächlich ist die Bedrohung durch einen potentiellen Atomkrieg noch keineswegs überwunden, wenn seine Wahjscheinlich-keit auch geringer wurde. Dagegen wurden schwere Lebensschädigungen ä la Tschernobyl ungleich wahrscheinlicher. Die „friedliche“ Nutzung der Kernenergie, die die Österreicher aus falschen Motiven nach Opferung von acht Milliarden Schilling gerade noch verhinderten, ist natürlich längst nicht mehr die einzige Menschheitsbedrohung. Wir erfahren immer mehr, wie sehr uns gerade der naturwissenschaftlich-technische Fortschritt immer mehr bedroht. Was uns die moderne Biologie noch bescheren kann, ist vielleicht noch unheimlicher als die Konsequenzen von Physik und Chemie.

In Anbetracht aller Bedrohungen des Lebens ist es keineswegs selbstverständlich, das „Ja zum Leben“ zu sagen und voller Hoffnung zu sein, wobei man so tut, als ob die Erfüllung menschlicher Hoffnung etwas substantiell Christliches wäre. Dabei ist uns nur eine Erfüllung jenseitiger Hoffnung verbürgt, keineswegs eine diesseitiger.

Allerdings, bei aller Skepsis gegenüber dem menschlichen Fortschritt, gibt es eine christliche Verpflichtung, bis zum letzten Augenblick auf seiten des Lebens zu stehen und es zu verteidigen. Dies trotz aller negativen Erwartungen. In diesem Sinne ist das Ja zum Glauben für den Christen auch die Voraussetzung für das Ja zum Leben.

Denn unter der Voraussetzung ewigen Lebens ist das Ja zum Leben auf jeden Fall sinnvoll. Martin Luthers bekanntes Wort ist so tief christlich: „Wenn ich wüßte, daß morgen die Welt untergeht, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“ Denn das irdische Leben gilt ja als Bewährungsprobe für das jenseitige, und nur aus dieser Voraussetzung kann die Uberzeugung wachsen, daß das Leben unter allen Umständen sinnvoll wäre.

Je bedrohter das Leben wird und je weniger wahrscheinlich es ist, daß es allen Angriffen gegenüber letztlich zu verteidigen ist, umso wesentlicher ist der Glaube an ein Jenseits, das dem Diesseits letztlich den Sinn gibt. Insoferne hängt heute wie nie zuvor das Ja zum Glauben mit dem Ja zum Leben zusammen.

Der Autor ist Psychologe und Verfasser mehrerer Bücher.

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