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Vom Kunstgenuß zur Meditation

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Einst saßen gläubige Menschen in den gotischen Domen und blickten zu den bunten Scheiben mit dem verwirrenden Spiel von Figuren und Szenen.

Die Leute schauten nur und ließen sich von einem Mythos aus Licht und Architektur umfangen. Ihre Gedanken waren in eine Stimmung eingebettet, die sich aus einer Mischung von Frömmigkeit, Raum- und Farbwirkung auf ihr Inneres senkte: Quelle einer unbewußten Meditation. An dieser Schau hatte die Seele noch Anteil.

Dann entdeckte man das Weltall, die Natur und den Menschen. Sie wurden zum Zentrum der künstlerischen Aussage. Das Individuum, das Genie wurde geboren. Nicht mehr das Heilige, sondern das Menschliche wurde verehrt. Irdischer Liebreiz wurde in höchster Vollendung in das Jenseits getragen, die Kuppeln der Kirchen mit schönen Damen gefüllt, die man heiliggesprochen hatte.

Ideen und abstrakte Begriffe wurden als Allegorien in menschlichen Gestalten dargestellt. Der personifizierte Staat ist genauso schön wie die personifizierte Kirche; sie unterscheiden sich nur durch das Schwert und den Kelch in ihrer Hand. Die Leiden der Märtyrer und die Ekstasen der Heiligen springen in die Augen, und Mariens Krönung vollzieht sich in einem kosmischen Reigen Hunderter Engel.

Es ist eine Augenweide, wenn man durch barocke Klöster geht. Man schwelgt in Farben und Formen. Gold und Marmor überspielen den geistigen Urgrund, bringen den Optimismus und die Lebenslust des barocken Menschen zum Ausdruck. So wird das Kunstwerk, einst dem Ewigen dienend, zum zeitlichen Genuß. Die großartige Vision des Typus eines neuen, durchgeistigten Prometheus, wie sie noch in Michelangelos Moses Wirklichkeit wurde, verwandelte sich in eine Figur äußerlicher Schönheit.

Dieses Äußerliche erscheint im Profanen noch verstärkt. Ein Zauber bürgerlicher Nichtigkeiten erfüllt die Galerien. Es ist etwas „zum Schauen“. An dieser Perfektion hat die Seele keinen Anteil mehr. Der Reiz des Schönen streift nur mehr die Haut. Rainer Maria Rilke, der Anwalt der Form, erkannte den gefährlichen Zustand des europäischen Geistes: „Das Schöne ist nichts als der Anfang allen Schreckens.“

Die Devotionalien-Industrie geistlicher und weltlicher Prägung ist der Gipfel dieses Schrek-kens. Das Gefühl für Wert und Substanz ist dem Bürger verlorengegangen; bewundernd blickt er zur sinnentleerten Hülse des absterbenden Barock; das Schöne ist hübsch geworden.

Und wie war es mit der Musik, der späten Kunst des Abendlandes? Von der einfachen, frommen Motette, von der naiven instrumentalen Umrahmung des gesellschaftlichen Lebens führt ein steiler Weg über die mathematisch durchdachte Fuge zu den inhaltsschweren Gestaltungen des letzten Jahrhunderts. Aus dem Gestrüpp höfischer Formen trat das Geniale an den Tag.

Die weit ausholenden Gesten musikalischer Spannkraft wurden nach und nach zum bloßen Effekt für berühmte Dirigenten herabgewürdigt, die Darstellung großer Gefühle zur sentimentalen Jungmädchen-Empfindung umfunktioniert. Den Kopf in die Hand gestützt saß man in den Salons und hörte die „Winterreise“,mimte Schmerz und Traurigkeit, ohne die Tragik zu sehen, die dahinter steht.

Hier hat Arnold Schönbergs Wort in einem Brief an Wassüy Kandinsky seine Bedeutung: „Würden die Leute im Konzertsaal nicht nur hören, sondern auch denken!“ Fast niemand dachte. Bis in unsere Zeit geht die „Gesellschaft“ in das musikalische Theater - ob „Tristan“, „Ai-da“ oder „Land des Lächelns“ -, nur um sich berauschen zu lassen. Mord, Vergewaltigung, Liebeskummer, einsames Sterben im kalten Dachstübchen: alles nur mehr kulinarisch genossenes Leid.

Die Kunst-Geniej3er haben die Kunst und sich selbst entwertet.

Nachdem die riesigen Bäume, die in der vergangenen Kunstszene emporgewachsen sind, vom p. t. Publikum zu Kleinholz zerhackt wurden, mußte eine Wende kommen. Dem nicht mehr fühlenden, nicht mehr denkenden, nur mehr genießenden Publikum mußte der Spiegel vorgehalten werden, der seine Fratze zeigt. Auch das Häßliche wurde gestaltet. Massenmord, Kriege, Psychoanalyse und Atomzertrümmerung haben den „klassischen“ Menschen entlarvt. Mißtöne mußten ins Bild gesetzt und Erschütterung und Scham in Töne gefaßt werden.

Künstler spüren Ereignisse voraus. Schon zu Beginn dieses Jahrhunderts trat an die Stelle der Illusion das Entsetzen. In Gustav Mahlers, J-ied von der Erde“ findet sich der erschütternde Text: „Seht dort hinab! / Im Mondschein auf den Gräbern hockt / Eine wüdgespenstige Gestalt. Ein Äff ist's / Hört ihr, wie sein Heulen hinausgellt / In den süßen Duft des Lebens? / Dunkel ist das Leben, ist der Tod!“

Das Büd des großen Norwegers Edvard Münch „Der Schrei“ zeigt eine Brücke, die Menschen verbinden soll. Der schreiende Mensch hält sich vor Angst und Grauen die Ohren zu, während die Mitmenschen achtlos weitergehen.

Der geniale Versuch sinnlicher Verfeinerung im Impressionismus konnte den Abstieg in die inneren Abgründe nicht mehr verhindern.

Auch die Flucht in die abstrakte Reinheit ist unserer Zeit nicht fremd. Seit das Menschliche in Verlust geraten ist, trat das Dingliche in das Blickfeld der Künstler. Das Dreieck, das Quadrat und der Kubus, auch sie sind eine Schöpfung Gottes. Auch durch sie läßt sich die Welt erklären. Vergeistigung statt Sinnlichkeit scheint das Motto zu sein. Die Kunst ist wieder „Spiel“ geworden, doch die Spannung zwischen dem inneren Wert und der äußeren Form, der Illustration und der Reflexion bleibt der Nährboden der Kunst. Auch brodeln Quellen aus der Tiefe des Irrationalen, oft jeder Kontrolle entzogen. Die Begegnung mit anderen, ursprünglichen Kulturen hat unsere Vorstellung von „schön“ in Frage gestellt und uns auf das „Wahre“ verwiesen.

Seit Menschengedenken sind wir auf der Suche danach. Ob und wo wir es finden, wissen wir nicht. Doch vor Jahrtausenden wußte man: „Panta rhei“ (Alles fließt). In der modernen Kunst kündigt sich eine bedeutsame Wende an.

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