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Vom Sachzwang befreien"

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Fürchtet euch nicht!", ja, aber gilt das auch heute, da weltweit um acht Billionen Schilling gerüstet wird, die Wirtschaft kracht, die Arbeitslosigkeit steigt, die Umwelt kaputt geht, die Gewalt zunimmt, das Leben im Altersheim oder auf der Intensivstation endet?

Alles sieht gebannt auf die bedrohlichen Krisensymptome. Geschickte Leute machen sogar Geschaffe mit der Vorhersage von Katastrophen, die unvermeidlich seien.

Verschreckt wendet sich der kleine Mann an die modernen Heilsverkünder, an Wissenschafter und Politiker. In.seiner Ohnmacht erwartet er alles von ihnen. Doch auch „die da oben" sind überfordert. Sie sind in einer Fülle von Sachzwängen gefangen. Sie erwecken vielfach nur mehr den Anschein, zu steuern.

In Wahrheit sind sie Getriebene eines sich selbst beschleunigenden Systems. Man sehe sich den Kalender der mehr oder weniger „bedeutenden Menschen" unserer Tage an: Er ist randvoll mit Dingen, die zu tun sind, Menschen, die zu treffen sind, mit Briefen, die geschrieben und Anrufen, die getätigt werden sollen, und Verabredungen, die eingehalten werden müßten.

Wie sehr hat sich doch das Klima in den letzten zehn Jahren gewandelt! Wie weitverbreitet war doch die Zuversicht, daß die Triumphe von Forschung und Technik uns einen Fortschritt ohne, sichtbares Ende, bescheren würden. Wirtschaftliches Wachstum wurde auf Zehntelprozent genau „feingesteuert".

Und heute: Die Trends zeigen nach unten, das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, von dem wir uns total abhängig fühlen, zeigt Risse. Wir haben Angst, daß unsere Basis zerbricht, Pessimismus greift um sich.

Beide Grundhaltungen — die Euphorie der sechziger und der Fatalismus der achtziger Jahre — entspringen derselben einseitigen und daher falschen Weltsicht.

Sie ist auf den naturwissenschaftlichen Zugang zur Erfassung der Welt zurückzuführen. Erfaßt wird nur, was gemessen und gezählt werden kann, also nur jene Merkmale von Objekten, die vergleichbar sind. Schon in der Schule hat man uns beigebracht, daß man Äpfel und Birnen nicht zusammenzählen darf.

Man hätte uns aber schon damals darauf aufmerksam machen sollen, daß selbst das Addieren von Äpfeln nur beschränkt erlaubt ist, weil ja kein Apfel dem anderen gleicht. Beim Zählen vergißt man auf die Besonderheiten.

Das Verallgemeinern unter Vernachlässigung des Besonderen hatte gigantische Erfolge: Die Wissenschaft drang immer tiefer in die Gesetzmäßigkeiten der Welt um uns ein, unvorstellbar wirksame technische Instrumente entstanden, ein enorm leistungsfähiges Wirtschafts- und Gesellschaftssystem überschüttet uns mit Gütern.

Wegen des großen Erfolgs haben wir unsere Heilserwartungen ganz auf die Fortentwicklung des Systems gerichtet. Sind die Prognosen für das System gut, schwelgen wir in Optimismus, sind sie schlecht, versinken wir in Pessimismus. Dann reduziert sich unsere Hoffnung allzu sehr auf das Herbeisehnen von Trendwenden, auf das Ausschauhalten nach Silberstreifen am Prognosehorizont.

„Fürchtet euch nicht!", zielt auf eine andere Haltung: Es ist der Aufruf an den einzelnen, sich trotz besorgniserregender äußerer Umstände nicht zu ängstigen.

Für unsere Zeit bedeutet der Zuruf: Mensch, erkenne doch, daß du Person und nicht Rädchen in einer großen Maschine bist! Als einziges Lebewesen kannst du innerlich Abstand nehmen von deinen biologischen Veranlagungen, aber auch von den Einwirkungen der Umwelt. Die Freiheit der Person, das Besondere an uns, geht über die Sachzwänge.

Wir tun uns nicht zuletzt deswegen mit dem Hoffen so schwer, weil wir uns dieses Innerlich-Ab-stand-Nehmen kaum zutrauen. Wir halten zwar die verrücktesten Gesellschaftsveränderungen für möglich, aber daß ich und du, also Menschen, sich ändern werden, können wir uns nicht vorstellen.

Hoffnung bricht aber überall dort auf, wo einer Fehler erkennt, seine Freiheit nützt, um neu anzufangen, und es nicht bei der Erkenntnis bewenden läßt, sondern Konsequenzen zieht.

Das Betätigungsfeld ist riesig: Unsere kalte, rationale Welt braucht Menschen, die liebevoll mit ihren Mitmenschen umgehen und sie nicht nur als Funktionsträger ansehen: liebevolle Väter und Mütter, Mitarbeiter und Vorgesetzte, verantwortungsvolle Politiker imd Wissenschafter, interessierte Gesprächspartner...

Hoffnung habe ich nicht dann, wenn ich darauf spekuliere, daß schon etwas passieren wird, sondern wenn ich mich darauf einlasse, daß in mir etwas geschehen kann.

Und so verstehe ich auch die Botschaft der Heiligen Nacht an den Menschen von heute: Gott ist nicht nur der weise Schöpfer der allgemeinen Gesetzmäßigkeiten. Er beschränkt sich nicht darauf, uns seit Auslösung des Urknalls von ferne zu beobachten. Er ist vor allem der, der sich persönlich hinter jeden stellt, der umkehrt und erste Gehversuche in Richtung auf Erneuerung dieser kranken Welt macht.

Und weil er mitgeht, sagt er uns: „Fürchtet euch nicht!"

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