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Vom wundervollen Leben des L. W.

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Der Wagen war auf der verschneiten Straße zum Feistritzer Sattel ins Rutschen gekommen, und wir hatten umkehren müssen. So wurden wir vom Zufall nach Trattenbach verschlagen, als es just 50 Jahre waren, seit dieser spärlich besiedelte Ort seinen „spinnerten“ Lehrer an das benachbarte Otterthal abtrat. Kaufmann Scheibenbauer erzählt uns das. Er ist der erste, den wir ausfragen, nachdem wir, seit dem Lesen der Ortstafel elektrisiert, beschlossen haben, uns den Kärrnern anzuschließen, die reichlich zu tun haben, seitdem dieser König unter den Philosophen große Mode ist.

„Wittgenstein und kein Ende“ mag spätestens an dieser Stelle der Leser seufzen. Da wir hundert Vorgänger vermutet haben, finden wir die Nachricht ermutigend, daß wir, nach einem amerikanischen Team und einer Frau Doktor aus Wien, erst die Dritten seien, die sich erkundigen. Hier, im Oberstock des Hauses, über dem winzigen Büroraum, wo wir sitzen, hat er gewohnt, hier hat er den Fuchs ausgekocht, um das Skelett zu bekommen — „Ein Fuchs stinkt doch so furchtbar“ — und hier hat er über das Ansinnen der empörten Mitbewohner, daß er ausziehen müsse, gelacht. Das tat er auch, als der Onkel des Befragten gegen die oftmaligen körperlichen Züchtigungen des Neffen protestieren kam. Der seiner Zeit voraussehende Philosoph ahnte als Pädagoge noch nichts von antiautoritärer Erziehung.

Als „unbeherrscht“ wird ihn uns am Nachmittag der lokale Wittgenstein-Forscher (aus Fremdenverkehrsgründen), Dr. Hübner, Tierarzt in Otterthal, charakterisieren. Es sei übrigens seiner endgültigen Entfernung von der Schule ein Disziplinarverfahren vorausgegangen. Bürgermeister Koderhold (Dr. Hübner: Der hat keinen Wittgenstein gebraucht, um eine Persönlichkeit zu werden!“) erinnert sich schmunzelnd der Gesangstunden, in denen der die Klarinette blasende Lehrer zwischendurch mit Stockhieben für Aufmerksamkeit und richtiges Singen sorgte.Koderhold wurde als Klassenbester nach Wien aufs Gymnasium geschickt, blieb dort aber nur drei Jahre und wurde doch kein Studierter.

Keiner seiner Schüler hat studiert, und es gab genug „Genies“ darunter: Josef Angerler etwa, Ferdinand Schallerbauer, Karl Gruber und Oskar Fuchs. Hauptgrund: Geldmangel. Hätte Wittgenstein nicht hier sein Erbteil anlegen können, anstatt es anderwärts wegzuschenken? Sein Interesse am Fortkommen der Schüler blieb zwar auch späterhin rege, war aber auf solche Weise gleichsam gelähmt. Zwar war es bei Koderhold anders, den der Vater für seine Zwecke zurückgeholt hatte. Sonst hätte ihm, dem Jahre später der Lehrer auf der Straße begegnete, dessen freudiger Zuruf: „Was ist aus dir geworden?“ vielleicht wie Hohn geklungen.

Ein Buch könnte man mit den Details füllen, die sich an einem kurzen Nachmittag bei den paar Kundigen, die zu Hause waren, erfragen ließen. Doch sei dieses Geschäft dem amerikanischen Team sowie der Frau Doktor aus Wien überlassen. Wir berichten nur summarisch: Von Wien-Ausflügen ins Technische Museum, wo man bis zur Erschöpfung blieb, nach Schönbrunn und ins Theater. Von spätnächtlichem Sternkundeunterricht auf steilen Wiesenhängen, vom Erlebnis einer Sonnenfinsternis, die man durch geschwärzte Gläser betrachtete oder durch das Fernrohr des Lehrers. Von dessen „Tat“, die im Totpunkt hängengebliebene Dampfmaschine der Mautnerischen Weberei — sie liegt heute still — wieder flottgemacht zu haben. Von seiner Vorliebe für Kanons und überhaupt für „schwere Musik“, und seiner Abneigung gegen Heimatlieder, die man so gerne gesungen hätte. Von seinem Interesse für das Einfache, für einfache Leute, insbesondere für die Alten, wie für einfache Vorrichtungen, mit denen sie sich das Leben, die Arbeit, erleichterten: wie die zur Heuförderung auf den Steilwiesen. Von seinem Lachen, wenn das Seil riß und der Karren niedersauste. Von seinem — einzigen? — Freund, dem Pfarrer Neururer aus Südtirol — auch er als „Spinner“ bekannt — mit dem er zuweilen, wohl nach geistigen Auseinandersetzungen, stumme Tage der Spannungen verlebte. Davon, daß er wahrscheinlich weder singen noch zeichnen konnte, da er nie einen Ton sang und nur geometrisch zeichnen ließ. Von seiner offensichtlichen Frauenfeindschaft — er wich ihnen auf die andere Straßenseite aus —, die ihn heute, wie natürlich, in den Verdacht bringt, abwegig veranlagt gewesen zu sein, was seine Schüler strikte verneinen. Von der äußeren Erscheinung: mittelgroß (wir errechnen: einsdreiundsiebzig!), auffallend bartloses, fast frauenhaftes Gesicht, die Haare widerspenstig, braun geschnörkelt, lebhafte, flinke Bewegungen, ernst, niemals deprimiert, von Zeit zu Zeit nervös durch die Nase aufschnupfend. Vom Unterricht allgemein: oftmals vom Thema abkommend, gelegentlich philosophische Bemerkungen wie diese: „Der Mensch neigt zum Bösen. Eine Katze tut niemand etwas. Ihr wollt sie steinigen.“ Tausend Details!

Beim 91jährigen Bauern Draht: Seine Frau hat für den Lehrer mitgekocht. Fast umsonst, weil der arme Teufel ja nicht viel verdiente. Ein Schüler wurde täglich zu Mittag in das ferne Gehöft geschickt, um das Essen zu holen. Die Tochter des Bauern gibt auf die Frage, welche Bedeutung dem sonderbaren Menschen heute zukomme, die kenntnisreiche Antwort: „Er ist der bedeutendste Philosoph der neueren Zeit!“ Und sie fügt hinzu, daß er damals schon die Schüler in Aufsätzen über die Mondfahrt habe schreiben lassen. Solche Mißverständnisse findet man überall hier.

Aber ist es mit unserem eigenen Verständnis für Wittgensteins Aufenthalt in Trattenbach weit her? Ging es dabei mit vernünftigen, mit rationalen, mit rechten Dingen zu? Dieser zu klarstem Denken befähigte Geist hatte seine von aller Emotion und aus aller Tradition gelöste Philosophie zwar unter Verwendung seiner so außergewöhnlichen Ratio gefunden, sah sich aber dann, wie Hans im Glück, durch seinen allzufrühen Fund so sehr belastet, daß er ihn gegen einen leichteren einzutauschen wünschte. Da er, entsprechend seiner Philosophie, darüber schweigen mußte, „wovon oaan nicht sprechen kann“,- aber auch nicht stumm bleiben konnte, wollte er diesen Fehler ttn* ffle*TenscftS,e^“fft'' einen Vorteil verwandeln, indem er fortan nur noch von Dingen zu ihr redete, die ihr nützten. Der 23jährige Weininger war seinerzeit nicht so glücklich gewesen: Er glaubte sich durch seine Philosophie den Weg zurück verbaut zu haben und brachte sich um. *

Am Weltkrieg, an der Ungeheuerlichkeit der Zeit, war Trakl gestorben. Auch Wittgenstein traf sie wie bei Berührung einer Hochspannungsleitung der Strom, der seine Zellsäfte verdampfte, ihn austrocknete bis auf die Substanz der Ratio. Da brachten ihn Trattenbach, Otterthal und Puchberg, jene sechs Jahre, über die Runden, retteten ihn vor dem Wahnsinn, den er so sehr fürchtete. Er verließ geheilt die Gegend, wo er ein Fremdkörper war und im Gedächtnis der Leute geblieben ist. Sie strengen sich tapfer an, ihn nachträglich zu verstehen, glücklich, weil sie ausersehen waren. Aber was dort geschah, war seine Häutung, war nötig für ihn, nicht für sie, nicht für die Schüler, die „nicht warm werden konnten bei ihm“, und die sich nicht nur vor dem Stock und vor seiner Hand fürchteten, die sie an den Haaren riß, sondern auch vor Algebra, Kanons und Gedichten, vor dem Übermaß dieses Menschen, das ihnen noch in jener äußersten Reduzierung als Übermaß erschien, nicht anders wie auch in der ganz anderen Reduzierung der Philosophie auf die sieben Sätze des Traktats.

Sie meinen heute, sie wären begeistert gewesen — und vermißten doch nur die übliche Nestwärme gewöhnlicher Schulstuben, die ihnen der Sonderling nicht zu geben vermochte. Wie alle Menschheitsbeglük-ker konnte er nur sich selbst beglücken. An ihm aber ist wahr geworden, was ein ihm ebenbürtiger Kollege — doppelt: als Volksschullehrer und Philosoph — Ferdinand Ebener in Gablitz, räumlich und zeitlich nahe, von ihm hätte sagen können, als er schrieb: „Das ist immer das Geistige im Menschen, das ihm seine Schuld ans Leben zum Bewußtsein kommen, das ihn sein Leben als das von ihm etwas Forderndes erleben läßt. Erst in diesem Bewußtsein hat der Mensch wirklich sein Leben und den Sinn seines Lebens in sich.“ Denn „wer das subjektivste aller Probleme, das der Existenzverloren-heit, existierend aufgeworfen hat, der kann nicht mehr philosophieren“. Und Ebener hätte ihn auch warnen können vor seinem Volksschullehrerexperiment: „Die Menschheit verträgt den Geist nur im Symbol. Sie hat noch jeden, der das Wort vom Geist ernst nahm, es also nicht bloß symbolisch verstanden wissen wollte, für verrückt erklärt.“ Nicht nur im Nachbardorf sprach man vom „spin-nerten“ Lehrer Wittgenstein. Jedem, der nicht verstand, daß dieser Sohn des Reichtums — an Gütern wie an Geist — nur durch Verzicht auf beides zu heilen war, mußte er ja für verrückt gelten.

Und noch ein Wort Ebeners erleuchtet geradezu den inneren Zustand seines Kollegen in Trattenbach: „Es ist wohl eine der tiefsten und bedeutsamsten Lebenserfahrungen des Menschen, sich der Möglichkeit bewußt zu werden, daß am Ende sein ganzes Leben ein innerlich verlorenes sei. Sie bleibt vielleicht keinem ganz erspart, der aufgehört hat, ein Kind zu sein, und ist die allgemeinste, aber auch am geheimsten gehaltene Erfahrung jedes Menschen zwischen 30 und 40 Jahren etwa. Aber es gibt noch eine bedeutsamere innere Lebenserfahrung. Und diese ist der Glaube des Menschen an die Möglichkeit seiner inneren Rettung und diese Rettung selbst.“

Für Ebener war diese Rettung Gott, der Gott Pascals, der Gott Abrahams. Auch Wittgenstein wurde gerettet. Sonst wären seine letzten Worte nicht gewesen: „I've had a wonderful life.“

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