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Von alten Tugenden zur neuen Moral

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Der Autor, kanadischer Jesuit und Bibelwissenschaftler aus Montreal, versucht die konfessionelle Situation vor dem am 9. September begonnenen Kanada-Besuch des Papstes deutlich zu machen.

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Der Autor, kanadischer Jesuit und Bibelwissenschaftler aus Montreal, versucht die konfessionelle Situation vor dem am 9. September begonnenen Kanada-Besuch des Papstes deutlich zu machen.

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Mit einer leichten Vereinfachung des statistischen Befunds kann man sagen, daß drei Viertel der kanadischen Bevölkerung drei großen christlichen Konfessionen angehören: der Anglikanischen Kirche, der Vereinigten Kirche von Kanada (1925 aus der Vereinigung der Methodisten,

Presbyterianer und Kongregatio-nalisten entstanden) und der katholischen Kirche. Man wird unschwer feststellen, daß es in Kanada keine den USA vergleichbare Aufsplitterung des Christentums gibt.

Was die Teilnahme am kirchlichen Leben, zumindest auf der Ebene der „rites de passage“ (Taufe, Eheschließung, Beerdigung, Weihnachtsgottesdienst), anbelangt, ist die Situation in der katholischen Kirche Kanadas ziemlich stabil. Demgegenüber ist bei den großen nichtkatholischen Kirchen (Anglikaner, Vereinigte Kirche, Lutheraner) eine deutliche Abnahme zu verzeichnen, während bei den fundamentalistischen Gruppen und den Sekten Zuwächse zu registrieren sind (Zeugen Jehovas, Mormonen, östliche Sekten). Unter diesen Voraussetzungen wird der Besuch des Papstes für viele Kanadier ein Happening sein, religiöse Augenblicksbegeisterung ohne Konsequenzen für das eigene Leben oder das soziale Engagement. Das dürfte nicht zuletzt für die nichtkatholischen Kirchen zutreffen, auch wenn einige von ihnen schon darauf hingewiesen haben, daß der Papst nicht ihr sichtbares Oberhaupt ist. Denn die Grenzen zwischen den Konfessionen werden in Kanada immer durchlässiger, vor allem bei der Jugend. In der Ökumene zählen für sie nicht Dogmatik oder Geschichte, sondern praktische Gesten.

Am Sonntagsgottesdienst nehmen nach der jüngsten Gallup-Umfrage etwa 30 Prozent der kanadischen Christen teil. Bei den Katholiken sind es 50 Prozent, bei den Protestanten 25 Prozent. Zwei Drittel der regelmäßig Praktizierenden sind älter als fünfzig.

Die sakramentale Praxis hat sich in den letzten zwanzig Jahren tiefgreifend gewandelt. Sehr viele Gläubige empfangen das Bußsakrament nicht mehr. Dagegen feiern diejenigen, die weiterhin praktizieren, die Eucharistie häufiger und intensiver mit. Taufe und Firmung werden beinahe ausnahmslos empfangen, allerdings sind Zweifel an der religiösen Ernsthaftigkeit der Entscheidung für die Sakramente in Familien angebracht, in denen sonst keinerlei Formen des christlichen Lebens anzutreffen sind. Die sakramentale Ehe ist für die Jugendlichen und auch für eine gewisse Anzahl Erwachsener nicht mehr selbstverständlich.

Einer unlängst veröffentlichten Untersuchung der Universität Ottawa zufolge, halten allerdings 75 Prozent aller Kanadier an „religiösen Werten“ fest. Was ist darunter zu verstehen? Die Bandbreite reicht vom christlichen Bemühen um das durch Gnade geschenkte Heil bis zu primitivstem Aberglauben.

Man darf einen Punkt nicht

übergehen, der zweifellos im Vorfeld des Papstbesuchs eine wichtige Rolle spielen und die Perspektiven vernebeln wird: Für viele Kanadierinnen und Kanadier ist ihr Bild nicht nur vom Papst, sondern vom christlichen Glauben überhaupt fast ganz durch die Sexualmoral bestimmt. Vor allem seit „Humanae vitae“ haben sich die Massenmedien auf die päpstlichen Stellungnahmen zu Ehe, Empfängnisverhütung, Abtreibung, Scheidung und Homosexualität gestürzt.

Entscheidend ist jedoch die Herausbildung einer neuen Moral in Kanada, die an die Stelle der strengen Lebensregeln der Pioniere tritt. Sie ist kaum kodifiziert, wird vor allem durch Fernsehen, Radio und Kino vermittelt und an die Heranwachsenden von ihren Lehrern weitergegeben; mehr und mehr hat sie die christliche Moral verdrängt. Es handelt sich dabei um eine Ethik der Liebe, die vielfach allerdings zu vage definiert wird, des Mitleids und der Toleranz, um eine pluralistische Ethik. Sie trifft sich mit der kanadischen Kultur sowohl in deren wertvollen Elementen (Einfachheit, Sinn für die Natur, Optimismus) wie in deren Schatten-

Seiten (Konsumismus, Verbürgerlichung, Gewalttätigkeit, Individualismus).

Innerlichkeit, Kontemplation und Gebet haben eine gewisse Popularität zurückgewonnen. Aber auch hier ist die Bandbreite beträchtlich: Vom Gebet als Flucht, wie es von den Sekten angeboten wird, über die verschiedenen charismatischen Bewegungen (in Kanada etwa 50.000 Mitglieder) bis zum mit dem Engagement verbundenen Gebet der großen mystischen Tradition.

Das Glaubenswissen der Christen ist zweifellos geringer geworden. Obwohl vor allem seit dem Konzil bei den Katholiken erhebliche katechetische Anstrengungen unternommen wurden, ist die Verbindung zwischen Familie und Pfarrei einerseits und Schule andererseits nicht geglückt, so daß die Jugendlichen im allgemeinen über die Inhalte ihres Glaubens kaum Bescheid wissen. Sie erfahren von ihnen wie von vielen anderen Dingen durch das Fernsehen und durch Comics.

Nicht unerwähnt bleiben kann auch der massive Rückgang des Priester- und Ordensnachwuchses. In den Jahren nach dem Konzil verzeichnete die kanadische Kirche gleichzeitg eine Krise der Priester- und Ordensberufe (Rückgang auf etwa 20 Prozent der früheren Zahlen) und eine beträchtliche Zahl von Amtsniederlegungen. Diese Entwicklung hat sich zwar nicht im selben Maß fortgesetzt, aber die Träume von einer Wiederkehr der Blütezeiten haben sich nicht erfüllt.

Wenn die Sensationsmedien von Spaltungen in der Kirche

(und in den Kirchen) sprechen, geht es im allgemeinen um die gesellschaftliche Ausstrahlung dessen, was die kanadischen Kirchen darstellen und tun. Obwohl die Grenzen zwischen den einzelnen Lagern oft nur schwer zu ziehen sind, lassen sich doch drei Konzeptionen von Kirche und drei Grundtypen des gesellschaftlichen Engagements und des christlichen Lebens unterscheiden, die in Kanada quer durch die konfessionellen Gruppen hindurch anzutreffen sind: Eine individuali-stisch-spiritualistische Kirche; eine gemeinschaftsorientiert-ka-ritative und spiritualistische Kirche; eine Kirche mit einem gegenwartsbezogenen gesellschaftlichen Engagement.

Während dieser erste Typ des Christentums bei Geistlichen (seien sie katholisch oder nichtkatholisch) praktisch keine Anhänger hat, ist der zweite, gemein-schaftsbezogen-spiritualistische Typ weithin für die volkskirchliche Religiosität in Kanada bestimmend: Der Bezug zur Gemeinde ist lebendig geblieben, aber das Engagement beschränkt sich auf den engeren Umkreis, auf Wohltätigkeit gegenüber Hilfsbedürftigen. Dieses Verständnis von Glaube und Kirche prägt weithin die regelmäßig Praktizierenden in den konservativen Bevölkerungsschichten.

Die dritte Konzeption, nach der sich die Kirche unter den gegenwärtigen Bedingungen bewußt gesellschaftlich engagiert, ist zweifellos das sichtbarste Ergebnis der nachkonziliaren Bekehrung des kanadischen Katholizismus. Auf diesem Feld haben die Bischöfe fast ausnahmslos eine Vorreiterrolle gegenüber vielen einfachen Gläubigen gespielt. Sie haben dafür gesorgt, daß das Erscheinungsbild der Kirche nicht mehr von einem oft untertänigen Konservativismus, sondern von einer bemerkenswerten evangelischen Freiheit geprägt wird.

Ein besonderes Problem ist die Rolle der Frau in der Kirche. Es ist zu erwarten, daß der sichtbarste Protest während des Papstbesuches von feministischen Bewegungen ausgehen wird.

Gekürzt aus der Herder-Korrespondenz, Heft 9/1984.

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