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Von Anfang an Mensch

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Wenn heute das Leben des Menschen - in welcher Phase auch immer -von vielen Seiten als frei verfügbar und seine Manipulation als erlaubt angesehen wird, liegt dies zum Teil daran, daß den biologischen Vorstellungen, auf die sich die Aussagen über den Menschen beziehen, keineswegs nur Befunde, sondern auch Irrtümer zugrunde liegen.

Als einer der folgenreichsten Irrtümer muß das von Haeckel (1859) behauptete Biogenetische Grundgesetz genannt werden. Es besagt, daß der menschliche Keim während seiner Individualentwicklung (seiner Ontogenese) den Prozeß der Stammesentwicklung in abgekürzter Form rekapituliere und lehrt damit konsequenterweise, daß der Mensch ontogenetisch zunächst noch kein Mensch sei.

Diese Meinung konnte entstehen und Geltung haben, solange kompetentes humanembryologisches Befundmaterial fehlte. Das war im vorigen Jahrhundert zu Haeckels Zeiten der Fall. Damals versuchte man, aus zoologischen Beobachtungen die menschliche Entwicklung zu folgern, d. h. zu erschließen, was durch Beobachtungen nicht sicherzustellen war ...

... Ohne die tatsächlich unzureichenden Präparate der damaligen Zeit hätte das Biogenetische Grundgesetz gar nicht aufgestellt und glaubhaft gemacht werden können.

Wer der Hypothese Haeckels heute noch Glauben schenken wollte, müßte annehmen, der menschliche Keim durchliefe also zunächst nichtmenschliche Frühstadien, bevor er, nach Ausbildung eines vermeintlich allgemeinen Säugetierplans, charakteristische menschliche Differenzierungen zeigt.

Theoretisch müßte man hier bereits die Frage stellen, welche namentlich zu benennenden Spezies und welche der ungezählten Stadien ihrer Individualentwicklung hier denn wiederholt werden sollen: ein achttägiger Keim, ein zwei oder vier oder gar acht Wochen alter Keimling? Hier werden bereits Ansatzpunkte für die Falsifikation der Haeckelschen Hypothese deutlich.

Wenn die Vorstellungen des Biogenetischen Grundgesetzes, also die Annahme einer Rekapitulation, richtig wäre, dann dürfte erwartet werden, daß menschliche und tierische Eier sowie besonders die jungen Embryonen verschiedener Spezies einander sehr ähnlich wären. Diese Erwartung hat sich jedoch nicht bestätigt. Vielmehr sind gerade in der Frühentwicklung die Unterschiede besonders groß.

Nachdem man heute die menschliche Ontogenese mikroskopisch gut kennt, hat man die Annahme einer Rekapitulation der Phylogenese während der Ontogenese nachgeprüft und feststellen müssen, daß sich keine Rekapitulation finden läßt. Es ist nachgewiesen, daß Haeckels Vorstellungen falsch waren und daß alle Versuche, etwas von ihnen zu retten, vergeblich sind.

Das behauptete Gesetz ist deswegen so eminent bedeutsam, weil es Konsequenzen nicht nur in der Biologie selbst, sondern auch in der Verhaltensforschung und Gesellschaftspolitik hat und, wie sich in neuester Zeit zeigt, auch in der Moraltheologie haben kann.

Gegen diesen Befund ist es kein Einwand, daß selbstverständlich in jeder Phase der Ontogenese Prozesse ablaufen, die Einzelmerkmale haben, wie sie auch sonst in der belebten oder sogar in der unbelebten Natur vorkommen. Es ist gewiß, daß unter ähnlichen Voraussetzungen und ähnlichen Umständen bei Gültigkeit der gleichen Gesetze vergleichbare Wachstumsvorgänge und Entwicklungsprozesse zu erwarten sind.

So ist unter bestimmten Wachstumsbedingungen z. B. bei vielen Tieren eine jeweils genauer bestimmbare Abstumpfung des oberen und gleichzeitig eine Zuspitzung des unteren Körperendes biodynamisch gegeben. Das liegt . aber ebenso wie die Entstehung beliebig anderer Differenzierungen bei Tier und Mensch, wie z. B. des Herzens, der Leber, der Extremitäten, der Zähne, an der Allgemeingültigkeit gewisser biodynamischer Regeln der Differenzierung, ist

aber nicht etwa eine Rekapitulation von geschichtlichen Ereignissen.

Einzelne Merkmale wie Gewicht, Größe, Wassergehalt, Eiweißketten können bei verschiedenen Spezies dieselben sein. Im Zusammenhang des ganzen Organismus haben sie aber immer art- und individualspezifische Bedeutung. Als Ganzes hat jeder Organismus unvergleichliche Eigenart.

Man kann nun fragen: Woher weiß man, daß schon in den ersten Tagen und Wochen ein sogenanntes menschliches Ei oder ein menschlicher Embryo wirklich ein Mensch ist? Die begründbare Antwort lautet: Wir wissen heute, daß jedes Ei artspezifische Chromosomen enthält, und wissen ferner, daß in der Ontogenes keine Chromosomenänderungen vorkommen, die etwa artverändernd wirken würden.

Hier gilt der wichtige Satz: Was sich während der Entwicklung ändert, ist nur das Erscheinungsbild, nicht aber

das Wesen. Jeder menschliche Organismus ist vom Beginn seiner Entwicklung an in seiner Größe, seiner Form und seiner Struktur typisch menschlich. Dies beinhaltet, daß auch jeder Entwicklungsschritt und damit schon jede frühe Verhaltensweise eines jungen menschlichen Keims spezifisch menschliche Eigenart hat.

Schon der einzellige Keim ist ein individueller Organismus. Seine Individualität läßt sich u. a. am Zellkern erkennen. Dieser gleicht, was Zahl, Form und Struktur seiner Chromosomen betrifft, keinem Kern irgendeines anderen Eis. Wenn wir den Zellkern mit dem Zelleib zusammen als ein Ganzes betrachten - und das muß man tun -, erkennen wir den Keim als ein einmaliges ursprüngliches Lebewesen.

Zu keiner Zeit seiner Entwicklung ist der Keim ein ungeordneter Zellhaufen, wie man es manchmal lesen kann. Vielmehr dokumentieren schon die ersten

Zellveränderungen geordnete Prozesse.

Im Verlauf des dritten und vierten Tages nimmt durch Unterteilung die Zahl der Zellen schnell zu. Die neu gebildeten Zellen trennen sich nicht, sondern halten sich durch gegenseitigen Stoffaustausch aneinander. Das Wechselspiel zwischen den Zellen ermöglicht, daß die Zellen sich gegenseitig in Form halten. Wir sehen darin eine wichtige Gestaltungsfunktion schon der ersten Zellen.

Die Zellvermehrung ist am dritten und vierten Tag mit der Bildung allmählich größerer Mengen von Abbau-stoffen verbunden. Sie stauen sich als flüssige Interzellularsubstanz exzentrisch im Inneren des Eis. Mit der Flüssigkeitsansammlung entsteht das ein-kammerige Ei, der Blastocyst.

In diesem frühen Stadium zeigt sich schon eine sehr deutliche Unterschiedlichkeit zwischen den verschiedenen Spezies. So ist beispielsweise das ein-kammerige Affenei nicht nur wesentlich, sondern auch formal deutlich verschieden vom menschlichen Ei.

In seinem Buch „Die Rückseite des Spiegels" schreibt K. Lorenz: sobald „wir uns die Frage vorlegen, warum ein bestimmter Organismus gerade so und nicht anders strukturiert sei, müssen wir die wichtigsten Antworten in der Vorgeschichte der betreffenden Art suchen.

Die Frage, warum wir unsere Ohren gerade an dieser Stelle seitlich am Kopf haben, erhält eine legitime kausale Antwort: weil wir von wasseratmenden Vorfahren abstammen, die an dieser Stelle Kiemenspalten, das sogenannte Spritzloch, hatten, das beim Ubergang zum Landleben als luftführender Kanal beibehalten und unter Funktionswechsel dem Gehörsinn dienstbar gemacht wurde."

Das ist leider falsch. Hier wird Phylogenese (also Historie) als Deus ex ma-china zur Deckung von Wissenslücken benutzt. Die Phylogenese kann zur Erklärung auch nicht eines einzigen Entwicklungsschrittes während der Ontogenese herangezogen werden. Denn ein Organismus differenziert sich nicht aus Vorfahren, sondern aus der befruchteten Eizelle. Das gilt für Mensch und Tier gleichermaßen.

Auszug aus: GLAUBE UND WISSEN. Herausgegeben von Hans Huber und Oskar Schatz, Herder Verlag, Wien 1980, 272 Seiten, öS 248.-

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