7019168-1988_38_17.jpg
Digital In Arbeit

Von den Webern zu den Metallern

Werbung
Werbung
Werbung

Vorarlberg ist in den anderen österreichischen Bundesländern, aber auch darüber hinaus als das „Textilland Österreichs“ bekannt. Und das zu Recht. Immer noch werden in Vorarlberg mehr als 40 Prozent der österreichischen Textilien erzeugt. Dieser Prozentsatz ist in den letzten Jahren nicht zurückgegangen, sondern gestiegen. Dadurch wird deutlich, daß in keinem anderen Bundesland die Textilindustrie nur annähernd die Bedeutung und Größe erreicht wie in Vorarlberg.

Die Anfänge dieser Textilindustrie reichen mehr als 200 Jahre zurück. Begonnen hat die Entwicklung mit Baumwollhausspinnereien und Handwebstühlen. Aus dieser ursprünglichen Heimarbeit des Spinnens und Webens entwickelte sich sehr bald die Vorarlberger Baumwollindustrie. Da *diese ersten Maschinen mit Wasserkraft angetrieben wurden, entstanden die Betriebe für das Spinnen, Weben, Färben und Drucken meist an Flußläufen oder nahe daran. In den folgenden Jahrzehnten haben sich diese Betriebe neben der Handstickerei, die anfangs überwiegend für Schweizer Auftraggeber tätig war, gut entwickelt. So gab es in Vorarlberg schon um die Mitte des vorigen Jahrhunderts eine für damalige Verhältnisse beachtliche Industrie.

Der eigentliche Wandel vom Agrar- zum Industrieland erfolgte mit dem Bau der Arlbergbahn und hatte auch eine Ursache in der damaligen österreichischen Schutzzollpolitik. Die Zeit von 1880 bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges war eine entscheidende Gründungsperiode: zu den Baumwoll- und Stickereibetrieben kamen Neugründungen auf dem Wirkerei- und Strickereisektor, von Wollspinnereien und -Webereien, Klöpplereien und Seidenwebereien hinzu. Mit dem Aufkommen der Schifflistickma-schinen um die Jahrhundertwende nahm die Stickerei einen guten Aufschwung und erreichte eine starke Blüte. Aber auch Fabriksgründungen der verschiedensten nichttextilen Zweige fallen in diese wichtige Entwicklungsphase der Vorarlberger Industrie.

In der dritten Periode, beginnend mit den zwanziger Jahren, weitete sich auf textilem Gebiet die Strick- und Wirkwarenindustrie aus. Neben einer weiteren Entfaltung sämtlicher textiler Branchen begann sich auch die Konfektion zu entwickeln. Nach der wirtschaftlichen Zäsur des Zweiten Weltkrieges setzte sich der Industrialisierungsprozeß des Landes verstärkt fort: innerhalb des textilen Sektors vollzogen sich in der Zeit nach 1945 bedeutende Strukturwandlungen. Die Wirkereien und Strickereien, die nach dem Zweiten Weltkrieg erst ein Viertel der in der Baumwollindustrie Beschäftigten hatten, expandierten als Folge von Betriebsniederlassungen, aber auch von der Gunst der Mode getragen, ununterbrochen und überflügelten in den letzten Jahren (wenn man die Strumpffabriken einbezieht) erstmals die früher domi-

,,Der Strukturwandel spricht für die Vitalität und Dynamik der Wirtschaft“ nierenden Baumwollspinnereien und -Webereien.

So hat sich auch innerhalb der Textüindustrie ein Strukturwandel vollzogen, der sich später insbesondere in der Reduzierung der Produktion von Stapelware und in einer noch stärkeren Hinwendung zu hochmodischen und technisch schwierigen Produkten fortsetzte. Daneben entwickelten sich immer wieder nichttextile Branchen, die gerade in den letzten Jahrzehnten einen starken Wachstumstrend aufzuweisen haben.

Der Strukturwandel, den die Vorarlberger Textilindustrie schon frühzeitig und aus eigener Kraft in Gang gebracht hat und ,bis heute erfolgreich fortsetzt — gemeint ist die allmähliche Verlagerung des Schwergewichts von der traditionsträchtigen Baumwollindustrie (Spinnen/ Weben) zur Erzeugung und Verarbeitung jeder Art von Maschenware — spricht für die Vitalität und Dynamik dieses Wirtschaftszweiges und setzt zugleich alle jene ins Unrecht, die für Vorarlberg irgendwann das Schlagwort von der „Monokultur Textilindustrie“ in Umlauf brachten.

Die heute bestehende Produktionsvielfalt und eine dadurch bedingte breitgestreute Absatzstruktur machen die Textilindustrie Vorarlbergs mehr als so manche andere Industriebranche des Westens auch bei stark steigendem Konkurrenzdruck wettbewerbsfähig.

Die anderen Industriesparten der Vorarlberger Wirtschaft, insbesondere die Metall- und Elektroindustrie, haben in den letzten Jahren ungewöhnliche Wachstumsraten erzielt und sich selbstbewußt neben die ebenfalls stark expandierende Textilindustrie gestellt. Dieser Entwicklungsprozeß spricht gewiß nicht gegen die Textilwirtschaft, sondern ausschließlieh für die Potenz des nichttextilen Bereiches. Die dynamische Entwicklung im nichttextilen Bereich der Vorarlberger Industrie ohne Eingriffe vom grünen Tisch des Wirtschaftspolitikers hat sehr viel zur Auflockerung der Wirtschaftsstruktur im Lande beigetragen.

So ist der Anteil der Textil- und

Bekleidungsindustrie am gesamten Brutto-Produktionswert der Vorarlberger Industrie von knapp 75 Prozent im Jahre 1960 auf 35,3 Prozent im Jahre 1987 gesunken. Im selben Zeitraum ist der Anteil der Nahrungs- und Genußmittelindustrie von knapp zehn Prozent auf 15,7 Prozent gestiegen, jener des Maschinen- und Stahlbaues von 1,2 Prozent auf 8,8 Prozent. Besonders stark zugenommen hat die Bedeutung der Eisen-, Metall- und Elektrogrup-pe (EMEL). Hatte dieser Sektor 1960 mit einem Anteil von 4,4 Prozent nur einen geringfügigen Anteil am Industrieproduktionswert, so hat dieser bis zum Jahre 1987 mit einem Anteil von knapp 25 Prozent kräftig expandiert und beste Chancen, aufgrund der regen Investitionstätigkeit in absehbarer Zeit zur führenden Branche aufzusteigen.

Der Aufwärtstrend dieses Sektors läßt sich auch aufgrund anderer Indikatoren ableiten: Der Anteil seiner Beschäftigten betrug in Vorarlberg im Jahre 1962 nur zehn Prozent; 1987 waren es bereits 34,5 Prozent. Der Anteil der Exporte der EMEL-Gruppe lag 1971 noch bei rund zehn Prozent am gesamten Exportaufkommen der Vorarlberger Wirtschaft, im vergangenen Jahr waren es mit knapp sieben Milliarden Schilling Exportwert bereits mehr als 25 Prozent. Der Anteil der Textil- und Kleidungsindustrie am gesamten Exportaufkommen unseres Landes ist im Vergleich dazu von 63 Prozent im Jahre 1971 auf weniger als 40 Prozent gesunken. Ein deutlicher Beweis mehr für die zunehmende Produktdiversifizierung in der Wirtschaftsstruktur unseres Landes.

Ein Vorteil der Metall- und Elektroindustrie in Vorarlberg liegt zweifelsohne auch darin, daß die überwiegende Anzahl der Betriebsgründungen erst in den

„Vorarlberg bleibt das führende Textilland Österreichs“ fünfziger Jahren oder später erfolgte, sodaß die Unternehmen von hemmenden alten Strukturen unbelastet sind.

Vorarlberg hat den Nachteil, daß es keine Hochschulen und hochschulähnlichen Einrichtungen besitzt. Dies ist zweifelsohne ein Hemmnis für die Vorarlberger Industrie, weil vor allem jene Bereiche, die sich keine eigenen Forschungsabteilungen leisten können, von Forschung und Entwicklung abgekoppelt sind oder doch nur mit Verzögerung Rationalisierungsreserven durch Anwendung von Forschungsergebnissen nutzen können. Deshalb hat das Land zusammen mit Arbeiterund Handelskammer das Vorarlberger Technologie-Transferzentrum errichtet.

Ziel dieser Einrichtung ist eine konstruktive Zusammenarbeit mit Forschungsinstitutionen im In- und Ausland, insbesondere mit der stärksten Technologieregion Europas, Baden-Württemberg, um den Einsatz neuer Techniken in der Wirtschaft unseres Landes zu unterstützen. Dadurch sollen günstige Voraussetzungen für neue Produkte und Produktionsverfahren geschaffen und ein Technologieschub im Lande ausgelöst werden.

Alles in allem kann gesagt werden, daß in Vorarlberg zwar weiterhin die Textilindustrie dominiert und Vorarlberg innerhalb Österreichs das führende Textilland bleiben wird, daß sich aber daneben andere Industriezweige, besonders Eisen, Metall und Elektro, stark entwickelt haben und somit eine gute und ausgewogene Wirtschaftsstruktur besteht, die auch künftige Schwierigkeiten zu meistern in der Lage sein wird.

Der Autor ist Vorarlberger Landtagspräsident und Mitherausgeber der FURCHE.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung