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Von der Bildung zum neuen Lernen

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Was Bildung ist oder sein soll, war und ist umstritten. Daß aber Bildungschancen Lebenschancen sind, steht heute außer Zweifel. Die Bildungswege sind in unserer Gesellschaft Wege zur beruflichen Stellung, zum Einkommen, zum gesellschaftlichen Ansehen.

Bildung ist aber auch etwas anderes. Daran erinnert der Satz aus der Antike: „Erwirb nur solche Güter, die, wenn Du Schiffbruch erleidest, mit Dir ans Land schwimmen.“ Bildung soll ja nicht nur das physische Überleben verbessern, sondern auch zum sinnvollen Leben beitragen. Sie soll Fähigkeiten, Fertigkeiten, Haltungen, Einstellungen, Tugenden, Werte vermitteln.

Bildung — das bedeutet für viele noch immer, daß man von möglichst vielen Dingen viel weiß. Aber schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts hieß es: „Gebildet ist, wer weiß, wo er findet, was er nicht weiß.“ Die Fähigkeit, den

Zugang zum jeweiligen Wissensstand zu kennen oder zumindest finden zu können, wird in einer Zeit immer wichtiger, in der sich das Wissensgut eines Fachgebietes alle drei bis zehn Jahre verdoppelt.

Der Grundsatz des lebenslangen Lernens ist heute allgemein anerkannt. Konsequenzen sind daraus freilich noch zu selten gezogen worden. Eine gewisse Angst vor einer lebenslänglichen Verschulung des Menschen spielt hier mit.

Angesichts der Menge und der Vielfalt der Informationen und der steten Vermehrung des Wissens kommt es immer mehr darauf an, zu lernen, wie man lernt. Autonomes Lernen ist notwendig. Es kommt darauf an, daß man

selbständig die eigenen Lernprozesse initiieren und steuern kann, daß man ohne Führung, aus eigenem Antrieb, lernen und weiterlernen kann. Zur Fähigkeit der selbständigen Informationsbeschaffung muß die Fähigkeit des selbständigen Umganges mit Informationen kommen. Dazu gehört auch die Kunst, Wesentliches vom Unwesentlichen zu unterscheiden.

Man hat dabei immer wieder die Begriffsbildung und die Beherrschung der Sprache betont. Man muß lernen. Gesprochenes und Geschriebenes zu erfassen und zu verstehen. Die Fähigkeit, sich in Wort und Schrift verständlich auszudrücken, muß zur Fertigkeit werden. Besonders in einer freien Gesellschaft ist es wichtig, aufeinander hören und miteinander reden zu können.

Demokratie ist auch Diskussion. Methodisches und vorurteilsloses Denken, Initiative, Konzentrationsfähigkeit, Diskurs- und Argumentationsfähigkeit, Toleranz und Fair play, Ausdauer und Geduld, Selbstkritik und Selbstkontrolle sind in der Demokratie sowohl im privaten als auch im öffentlichen Leben gefragt.

In diesem Zusammenhang ist die Zielbestimmung unseres Schulrechtes (§ 2 Schul-Organi- sationsgesetz 1962) bemerkenswert. Danach haben alle österreichischen Schulen die Aufgabe,

„an der Entwicklung der Anlagen der Jugend nach den sittlichen, religiösen und sozialen Werten sowie nach den Werten des Wahren, Guten und Schönen durch einen ihrer Entwicklungsstufe und ihrem Bildungsweg entsprechenden Unterricht mitzuwirken“. Sie haben die Jugend mit dem für das Leben und den zukünftigen Beruf erforderlichen Wissen und Können auszustatten und „zum selbständigen Bildungserwerb“ zu erziehen. „Die jungen Menschen sollen zu gesunden, arbeitstüchtigen, pflichttreuen und verantwortungsbewußten Gliedern der Gesellschaft und Bürgern der demokratischen und bundesstaatlichen Republik Österreich herangebildet werden. Sie sollen zu selbstständigem Urteil und sozialem Verständnis geführt, dem politischen und weltanschaulichen Denken anderer aufgeschlossen und befähigt werden, am Wirtschafts- und Kulturleben Österreichs, Europas und der Welt Anteil zu nehmen und in Freiheitsund Friedensliebe an den gemeinsamen Aufgaben der Menschheit mitzuwirken.“ Ein hoher Auftrag, eine schwierige Aufgabe, schöne Worte, über die zu wenig diskutiert wird.

Der Wert, den gründliche und ausgedehnte Bildung für den einzelnen hat, liegt zunächst darin, daß er eine große Menge von As- soziations- und Anschauungsma

terial besitzt, über das er in den verschiedenen Situationen des Lebens verfügt. Bildung hat aber auch mit dem Menschen als Ganzes und mit seiner Stellung im Kosmos zu tun. Als „Banausen“ gelten seit dem Altertum Menschen, die nur an ihrem Handwerk interessiert sind. Heute spricht man oft von „Fachidioten“. Man meint damit Menschen, die so spezialisiert sind, daß sie nur mehr „viel über wenig“, „immer mehr über immer weniger“, „alles über nichts“ wissen. Die Banausen und Barbaren des Spezialistentums hängen aber eng mit unserer arbeitsteiligen Wirtschaft und Gesellschaft zusammen.

Die gesellschaftliche Arbeitsteilung und damit verbunden die Spezialisierung der Wissenschaften schlägt sich heute vielfach in der Gestaltung der Lehrpläne und des Unterrichts nieder. Schon als Kind wird der Mensch der Arbeitsteilung unterworfen. Sollten aber „Hand, Herz und Hirn“ nicht eine Einheit sein?

Diese Einheit von „Hand, Herz und Hirn“ kann nur aus zwischenmenschlichen Beziehungen hervorgehen, die dazu geeignet sind, Barrieren abzubauen. Deshalb legt der „Club of Rome“ so viel Wert auf die Konzeption des neuen Lernens: Zum autonomen Lernen kommt das partizipatorische Lernen. Individuen sollen durch zwischenmenschliche Beziehun

gen und Beteiligung lernen.

Es war eine Schwäche des alten Lernens, daß man an einem aufs vereinzelte Ich bezogenen Bildungsbegriff festhielt. Bildung führte nicht selten zu einer Art Unbeteiligtsein. Dieses Unbeteiligtsein betraf nicht nur gesellschaftliche Entwicklungen und Zustände, sondern auch Veränderungen der Natur durch Eingriffe der Menschen. Eine ausschließlich auf die Vollendung des sich selbst genügenden Ichs ausgerichtete Bildung führt leicht zur verhärteten Arroganz und hochmütigen Distanz.

Niemand ist gebildet, der nicht gerade in der Hingabe an seine Aufgabe deren Zusammenhang mit den Mitmenschen, mit dem gesellschaftlichen Ganzen erkennt. Damit ist nicht nur das Hinüberschauen über den eigenen kleinen Bereich gemeint, sondern das Bewußtsein, Teil des Ganzen zu sein und Verantwortung für das Ganze zu tragen.

Sollte nicht nach den großen Änderungen, welche in der Beziehung von menschlicher Gesellschaft und natürlicher Umwelt in den letzten zweihundert Jahren eingetreten sind, gerade die Bildung zur Verantwortung, zum Bildungsprinzip der Zukunft werden?

Es geht darum, das Gefühl für zeitliche und räumliche Zugehörigkeit und die Fähigkeit zur Vorwegnahme der Zukunft zu entwickeln. Keine frühere Zeitepoche hat die ganze Menschheit, die ganze Welt, die gesamte Natur im Verhalten so berücksichtigen müssen wie wir. Wir haben Verantwortung für eine entfernte Zukunft und für zukünftige Generationen. Daher wird die Bildung zur Verantwortung für das Überleben der Menschheit so wichtig. Physisches Überleben ist sehr wenig, wenn das Leben die Menschenwürde verliert.

Der Autor ist Ordinarius für Rechtslehre an der Wiener Universität für Bodenkultur.

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