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Von der Tradition

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Wißt Ihr, was Tradition ist? Ganz genau? Man sollte vielleicht einen Engländer fragen, einen To- ry-Tommy oder gar einen Aristokraten mit wenn schon nicht nachgewiesener, so doch mindestens nicht offiziell dementierter Verbindung zum Buckingham- Palast. Aber, wo ist der nächste?

Also, Tradition — das ist doch ganz einfach: Tradition ist die Begründung für etwas, das mart tut oder das man nicht tut, wovon man aber nicht weiß, warum man es tut — oder unterläßt. Einfach, nicht? Noch einfacher: Der Sinn der Tradition liegt in ihrer offensichtlichen Sinnlosigkeit.

Ganz schön scharf und philosophisch, aber so kommen wir der Tradition auch nicht näher; also, her mit Beispielen, den praktischen und den unpraktischen. Also — also, da ist zum Beispiel — also, so einfach ist das doch gar nicht.

Ruhe bitte, wie soll ich da einen klaren Gedanken fassen können. Moment, pst, ich hab’s („Heureka“ hätte jetzt ein Traditionalist gerufen!). Wann beginnt der deutsche Karneval? Weiß dort jeder, keine Frage, für Bundesbürger eine leichte Übung: am 11.11., genau um 11 Uhr 11 - sogar im Schaltjahr. Tara; Tara!

Und warum? Ja, warum denn? Weil nämlich vor exakt 105 Jahren, am 11.11. und 11 Uhr 11 anno domini 1876 auch der Karneval begonnen hat — und zwar vor allem im Deutschen Reich. Worin liegt denn da der Sinn? Natürlich nirgends, warum auch: Tradition.

Jedes Jahr zu Silvester wird in der Wiener Staatsoper im Gründerzeitprachtbau am imperialen Wiener Opemring dasselbe Stück aufgeführt. Immer das gleiche Publikum, immer dieselbe Musik, fast immer dieselben Schauspieler und Sänger; gelegentlich steht das Sofa im zweiten Akt links, dann wieder rechts, die Witze bleiben an derselben Stelle und die Lacher auch.

„Die Fledermaus“ von Johann Strauß muß es sein. Es ändern sich die Jahre, die politischen Umstände, die Währungen, es ändert sich sogar die Saumlänge der Abendgarderobe. Das Stück, das alle längst auswendig kennen und das auch gar nicht so umwerfend ist, bleibt immer dasselbe. Warum eigentlich? Nicht fragen: Tradition.

Monarchen haben bekanntlich eine beschwerliche Jugend, sie müssen überdurchschnittlich viel lernen. Sie rächen sich später durch besonders vorbildhaftes Benehmen. Sie neigen heutzutage auch nicht zu sonderlichem Wi- derspruch. Sie tim, was man von ihnen verlangt!

Der Höhepunkt monarchischer Selbstentäußerung ist die Thronrede der britischen Königin. Da tritt sie hin vor die Nation im Ornat und verliest ein Papier, mit dessem Inhalt sie überhaupt nichts zu tun hat. Man verkürzt sie zur politischen Nachrichtensprecherin — und dafür ist sie merkbar nicht ausgebildet. Hat hier jemand nach dem Sinn gefragt? Ich bitte Sie, Sinn! Tradition!

Vor einigen Wochen war ich zum Tennisspielen in einen neuen, kleinen Club am Rand der Stadt gefahren. Da spielten zwei straffe, junge Muttis, deutlich sichtbar mit geringer Spielpraxis. Sie hatten mit dem Zählen noch ihre Probleme, so ritzten sie den jeweiligen Spielstand mit den - Rackets in den Aschenboden. Es

ist j a auch schwer: Der erste Punkt gibt 15, der zweite nochmals 15, dann wird’s billiger, dann gibt’s nur mehr 10, und dann ist es ganz aus oder geht mit „Einstand“, „Vorteil“, Ruf“ und Rück“ weiter. Ich frage Euch einmal, hat denn so etwas irgendeinen Sinn? Natürlich: Tradition.

Wir schlugen einige Bäller Es gelang nicht so recht, obwohl es am perfekten Zählen nicht mehr hapert. So ging’s zurück in die Garderobe und unter die Dusche. Die teuren weißen Klamotten wurden zum schmutzigen Bündel geschnürt, daheim wartet ja gottlob die Waschmaschine. Warum

müssen die Tennissachen auch weiß sein, wo es doch nur eine einzige vernünftige Farbe für die Aschenplätze gibt. Nein, nicht Blau, oder Grün — Rot, möglichst Ziegelrot.

Die Tradition hat die Tradition. Voraussichtlich gab es sie schon immer. Sie hat Bestand und wohl auch noch Zukunft. Letzten Donnerstag hatte ich an der Freien Universität in Berlin zu tun: Da sind die Wände bepinselt wie eh und je. Ich dachte, das ist da noch übrig geblieben, von den seligen, den ach so dynamisch-jung-fortschrittlichen Apo-Tagen, zu denen ich studierte.

Falsch: Das roch noch alles frisch aus der Spray-Dose, und manche Kalkinschrift konnte man sogar noch wegwischen, so neu war sie. Dabei sind die meisten rebellischen Studenten längst selber Professoren. Heute dürfen sie das lehren, was ihnen damals vorenthalten wurde. An die Wände kommen die Bekenntnisse immer noch. Warum? Tradition.

„Sch… Tradition“, verächtel- ten in den letzten Jahren fortschrittliche Studenten aller Arten akademische Riten und Festlichkeiten. Sie hinterließen nach bestandener Abschlußprüfung die Adresse ihrer Wohngemeinschaft in der Universitätsverwaltung. Dorthin möge man ihnen den staatsmonopolistisch-bürokrati- schen-Diplom-Wisch, den spätkapitalistischen Doktorhut, diese Ausgeburten perfiden Klassendenkens nachsenden.

Als das Geringgeschätzte — per Einschreiben - in der studentischen Encounter gruppe eintraf, traf es auf lange Gesichter. Nach mehreren Schweigerunden zog der frischgebackene Soziologie- Doktor erst eine Flasche Kognak aus der Basttasche, und, nachdem jene flugs geleert war, zog man ins nächste Revolutionscafe. Dort wurde die Nacht lang. Es muß doch etwas dran sein an so mancher Tradition.

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