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Von der Wolga nach Helsinki

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Genau 30 Jahre nach der Tragödie um Stalingrad beginnt die große Sicherheitskonferenz: Über Europa soll eine Glasglocke gestürzt werden. Während die Materialschlachten des fernöstlichen Dschungels den künftigen Leidensweg der Menschheit trassieren, macht der alte Kontinent Pause. Nichts kann hier von seinem Platz verrückt werden, was kommunistisch geworden ist; es soll so bleiben und den Mund halten. Ein Neutraler wird zur Ordnung gerufen, darf aber doch im Westen „mitnaschen“, die Bundes- und die Ostdeutschen dürfen gegeneinander etwas höflicher werden, zumal wenn Wahlzeiten oder Ernährungskrisen am Himmel stehen. Trotzdem — seit Stalingrad gibt es keinen formellen Friedenszustand in Mitteleuropa.

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Genau 30 Jahre nach der Tragödie um Stalingrad beginnt die große Sicherheitskonferenz: Über Europa soll eine Glasglocke gestürzt werden. Während die Materialschlachten des fernöstlichen Dschungels den künftigen Leidensweg der Menschheit trassieren, macht der alte Kontinent Pause. Nichts kann hier von seinem Platz verrückt werden, was kommunistisch geworden ist; es soll so bleiben und den Mund halten. Ein Neutraler wird zur Ordnung gerufen, darf aber doch im Westen „mitnaschen“, die Bundes- und die Ostdeutschen dürfen gegeneinander etwas höflicher werden, zumal wenn Wahlzeiten oder Ernährungskrisen am Himmel stehen. Trotzdem — seit Stalingrad gibt es keinen formellen Friedenszustand in Mitteleuropa.

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Angesichts dieser Situation wäre es ein verständlicher Irrtum, anzunehmen, die Weltmächte hätten sich dahingehend geinigt, daß Europa eine Art von Lainzer Tiergarten mit einer Sicherheitskonferenz als Forstdirektion sein sollte. So einfach liegen die Dinge natürlich nicht. Es wäre auch ungerecht, das Initiative Geschick mancher europäischer Regierung hintanzustellen, die aus der nun einmal gegebenen Lage herausholt, was nur immer möglich ist, und neue, nicht ganz einkalkulierbare Akzente setzt. Damit wird ein wohltuender Unterschied zu den tollpat-schigen Afrikanern gewahrt, die oft den Bogen überspannen oder aufs falsche Pferd setzen: politische Künstlerschaft ist eben nicht von heute auf morgen erlernbar.

Anderseits bilden die Ereignisse des zweiten Weltkrieges — und das soll im folgenden näher beleuchtet werden — in Europa mehr «ls anderswo noch immer das Fundament, auf dem die Supernationen das Schicksal des Abendlands zu manipulieren trachten. Sicherlich flak-kerte auch hier der „Kalte Krieg“, aber NATO und Warschauer-Pakt-Staaten haben ihre martialischen Nahziele aus den Augen verloren, und das Mittelmeer glättete sich wieder. Doch gerade deshalb ist alles den Ausgangspositionen am Ende des zweiten Weltkrieges ähnlich geblieben, der Unterschied zu anno 45 liegt eher in der Tendenz und in der Dynamik als in sichtbaren Dingen.

Auf dem Balkan könnte erst der Heimgang des alten Tito die Ereignisse von 1945 und 1948 vergessen machen. Nicht auszudenken wäre die Lage allerdings, wenn der zweite Weltkrieg etwa schon 1943 beendet worden wäre. Damals befand sich Bulgarien noch nicht mit der UdSSR im Kriegszustand und selbst die Kroaten hätten noch ihre begrenzte Souveränität zu selbständigem Handeln ausnützen können. Aber die Verständigungsversuche des Dritten Reiches mit den Westmächten oder mit der Sowjetunion während des zweiten Weltkrieges weisen zwei Charakteristika auf, die sowohl angesichts der diktatorischen Staatsform Deutschlands wie auch mit Rücksicht auf die zeitweise realistische Einschätzung der Lage durch die NS-Regierung überraschen: Zunächst gelang es niemals, die Gespräche der einzelnen braunen Machthaber mit den Gegnern zu koordinieren oder hiefür eine einheitliche Linie innerhalb der Reichspolitik zu finden. Das gegenseitige Mißtrauen wie auch die merkwürdige Trägheit Hitlers in dieser Sache waren scheinbar zu groß. Zum anderen glaubten alle deutschen Unterhändler, das Reich werde als solches für den Westen oder für den Osten stets einen hochgeschätzten Wert in der weiteren Auseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Kommunismus darstellen. Hitler hat daran wahrscheinlich erstmals 1944 zu zweifeln begonnen, als er über Mi-hailovic den Allüerten die Räumung des gesamten Balkangebietes unter der Voraussetzung anbieten ließ, daß die Amerikaner und Engländer diesen Teil Europas sofort besetzen müßten. Aber dann wäre das Reich noch immer zum Partner eines alliierten Walles gegen den roten Osten geworden.

Der deutsche SS-Führer Wolff hat bei seinen erfolgreichen Verhandlungen zugunsten des Waffenstillstandes in Italien 1945 nicht mehr an diese Partnerschaft geglaubt und mußte sich daher vor Berlin und Moskau sehr in acht nehmen. Der alliierte Wall kam tatsächlich zustande, und zwar entlang der griechischen Nordgrenze und quer über die Adria herauf bis ins jugoslawische Vorfeld, um das heute zumindest Wieder diskutiert wird.

Die französisch-deutsche Zusammenarbeit wird mindestens so lange Realität sein, wie sich die Bundesrepublik trotz ihrer wirtschaftlichen Stärke auf die französische Finanzpolitik einstellt. Darüber hinaus aber haben die Deutschen heute in Frankreich wesentlich mehr Freunde als vor 1939. Inmitten des französischen Zusammenbruchs von 1940, da Berater des Staatspräsidenten meinten, er solle aus Beispielsgründen seine Flucht verzögern und sogar riskieren, von den Deutschen eingeholt zu werden, erwiderte das Oberhaupt der Dritten Republik: „Glauben Sie, ich möchte das Schicksal Schuschniggs erleiden?“ Tatsächlich zögerte selbst er etwas später zugunsten einer Verständigung mit Hitler und der sogenannten Erneuerung Frankreichs. Sein Schicksal wurde damit dem des österreichischen Bundeskanzlers überraschend ähnlich.

Es hieße nun die Wahrheit auf den Kopf stellen, würde man der Mehrzahl des französischen Volkes in jenem Sommer größeren Widerstandswillen zuschreiben als etwa den Österreichern zwei Jahre früher. Sicher trennten Sprache und Kultur hinter den Vogesen stärker als jenseits des Inns. Aber in Frankreich kam zum traditionellen Judenhaß noch der Zorn über Englands „Verrat“, über die Korruption des Parlamentarismus, über die „Volksfrontklüngel“, die morbide Hochfinanz, die Zersetzung der Armee und anderes hinzu. Den Generälen gelang es, alle Schuld an der Niederlage auf die Politiker abzuschieben, die französische Volksvertretung beschloß spontan die Selbstauflösung und das Ende der Demokratie.

Freilich existierten auch erwähnenswerte Unterschiede: Österreichs Anschluß basierte auf der „Stimme des gemeinsamen Blutes“, auf der „Befreiung vom Klerikalismus“, auf dem „gemeinsamen, völkischen Kampf gegen die Friedensordnung von 1919“ und auf der Hoffnung zugunsten einer prosperierenden Wirtschaft. Frankreichs Einschwenken ins faschistische Europa war eher proküerikal, den Pariser Vororteverträgen anno 1919 gegenüber resignierend, und extrem antikommunistisch, ohne zunächst hiefür Rückhalt bei den Deutschen zu suchen, weil deren Bündnis mit der UdSSR überschätzt wurde. Hinzu traten die Emi-grantenfeindliohkeit eines Landes, das von Flüchtlingen aller Art vollgestopft war, sowie der Anspruch auf weitere Geltung zur See und in Afrika, welcher von den Engländern damals mehr bedroht zu sein schien als von den Deutschen. Osteuropa war den Franzosen gleichgültig, die innere Reorganisation ohne weitere Bluitopfer vordringlich geworden. So schied Frankreich mit dem Verlust von 80.000 bis 90.000 Gefallenen für drei Jahre aus dem Krieg, in den seine Flotte und seine Luftwaffe nicht wesentlich eingegriffen hatten. Den Italienern gegenüber hatte es sich bis zum letzten Moment militärisch überlegen gezeigt, wie die Kämpfe in den Seealpen bewiesen.

Wahrscheinlich wäre der Weltgeschichte eine gewisse Korrektur widerfahren, wenn sich die Franzosen sofort zur Weiterführung des Kampfes von Afrika aus entschlossen hätten. Als dies ein Teil ihrer Militärs Ende 1942 unter Führung Amerikas tat und hiefür auch im Mutterland steigendes Verständnis fand, war die Welt von heute in ihren ersten Konturen bereits erkennbar. Die deutsch-französische Abneigung hatte darin nur sehr beschränkten Platz, die Erbfeindschaft schien uninteressant zu werden. Die vielen deutschen Grausamkeiten in Frankreich und die französischen Untergrundaktionen bildeten nur noch Details für Hitlers Kampf mit den Angloamerikanern oder Beiträge zur innenpolitischen Auseinandersetzung in Frankreich selbst. Unter diesem Aspekt muß auch die Weigerung der USA verstanden werden, in Frankreich zu landen, wenn dort eine kommunistische Regierung ans Ruder käme. Desgleichen die Tatsache, daß der offiziellen französischen Vergeltung nach 1945 viel mehr eigene Leute zum Opfer fielen als ehemalige deutsche Okkupanten.

Für viele Österreicher fängt alles, was seit 30 Jahren aus dem Osten kommt, mit der Wende von Stalingrad an. Tatsächlich steht die Schlacht an der Wolga nur als eine von vielen am Beginn unserer Epoche. Es ist bezeichnend, daß die Tragödie von Stalingrad bei den Engländern und Amerikanern nie jene Beachtung fand, die ihr seit 1943 in ganz Mitteleuropa gezollt wird. Hiefür war nicht nur die innenpolitische Situation Großbritanniens und der USA maßgeblich, sondern die gleichzeitige, große Wende im Mittelmeerraum, ein Ereignis, das für Wien in gleichem Abstand und in nahezu gleichrangiger Bedeutung vor sich ging wie der Untergang der Paulus-Armee an der Wolga.

Uber die Relativität der Ereignisse in Stalingrad im Winter 1942/43 sind sich neuere Geschichtsforschungen einig — darüber in der nächsten FURCHE.

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