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Von Freud zur „Foltertherapie“

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Die Ideen der Psychoanalyse haben sich schon im vorrevolutionären Rußland ausgebreitet und Anhänger gefunden. Damals wurden erstmals Bücher und Artikel von Sigmund Freud ins Russische übersetzt. Etablieren konnte sich diese Wissenschaft in der Sowjetunion der zwanziger Jahre. Eine Gesellschaft für Psychoanalyse wurde gegründet, die meisten Werke Freuds wurden publiziert, dazu wissenschaftliche Arbeiten anderer hervorragender Analytiker. Psychoanalytische Methoden fanden Eingang in die medizinische Praxis, in der Theorie versuchte man, Freudianismus und Marxismus gleichsam zu einem „Freudomarxismus“ zu verschmelzen.

Aber die Flitterwochen des „Freudomarxismus“ währten nicht lange. Gleichzeitig mit der Liquidation der „Neuen ökonomischen Politik“ wurde die Psychoanalyse als „reaktionäre bürgerliche Doktrin“ verteufelt. Die Publizierung von psychoanalytischer Literatur wurde eingestellt, kehr Wissenschafter konnte sich von da an mit Freud positiv auseinandersetzen. Diejenigen, die seine Ideen weiter verwerteten, verheimlichten sorgfältig die Herkunft der Konzepte, ja sie erklärten sich sogar für die „Vorhut im Kampf gegen die reaktionäre Psychoanalyse“.

Als Resultat der massiven Einmischung Stalins in wissenschaftliche Belange wurden um 1950 die Hypothesen von J. P. Pawlow kanonisiert. Nächster Schritt der „Partei“ (vielmehr Stalins) war die administrative Reorganisation der wissenschaftlichen und medizinischen Schulen. In der Folge wurden viele führende sowjetische Psychoanalytiker zu „Anti-pawlowisten“ erklärt und deshalb ihrer wissenschaftlichen Positionen enthoben. Von diesem Zeitpunkt an wurde die Psychiatrie von der Schule A. V. Schneschevskis monopolisiert, der - ein anderer „Favorit“ Stalins -mit einer „Theorie der Schizophrenie aus der Position Pawlows“ die Aufmerksamkeit der sowjetischen Fachwelt auf sich lenkte. (Seltsam, daß die Lippenbekenntnisse, die zu diesem Unsinn abgegeben werden mußten, unter den Psychoanalytikern selbst nicht mehr Schizophrenie auslösten.)

Nach Stalins Tod wuchs das Interesse für die Psychoanalyse wieder, da es die inländische Praxis einfach erforderte und die Kritik von außen nicht mehr ignoriert werden konnte. Aber statt begangene Fehler zuzugeben, mobilisierte man die intellektuellen Kräfte im Land, die bedrängten Positionen zu verteidigen. Die Hauptrolle im ideologischen Kampf gegen Freuds Theorien spielte ab 1958 Professor Ph. U. Bassin.

Noch heute existiert keine offiziell zugelassene Praxis der Psychoanalyse. Sie ist auch - im Sinne Freuds -derzeit kaum möglich. Freud hielt bekanntlich für eine psychoanalytische Behandlungstherapie täglich eine einstündige Sitzung über ein halbes Jahr für erforderlich. Diese Behandlung ist nur in einer privaten Praxis möglich. Da in der UdSSR die Kosten einer privaten Sprechstunde beim Arzt das Tageseinkommen eines durchschnittlich verdienenden Bürgers übersteigen, können sich nur die Privilegiertesten eine solche Behandlung leisten.

Gerüchten zufolge praktizieren einige Ärzte mit psychoanalytischen Methoden, vermutlich aber nur in Form der von Freud so leidenschaft-lieh kritisierten „wilden Psychoanalyse“. Doch seit geheim praktiziert werden muß, fehlt moderne Literatur und offener Erfahrungsaustausch. Obwohl sich einige Erkenntnisse Freuds auch in die offizielle medizinische Sowjetliteratur eingeschmuggelt haben, muß jeder Arzt, der Ideen Freuds in der Praxis anwendet, damit rechnen, zur Verantwortung gezogen zu werden.

Hypnosetherapien bedürfen einer kaum erteilten Sondergenehmigung des Gesundheitsministeriums. Nur zwei oder drei der größten Bibliotheken Moskaus besitzen Bücher Freuds, ihre Benützung ist nur mit Spezialer-laubnis möglich. Zu fast unerschwinglichen Preisen sind Werke Freuds in Form von Photokopien oder Vervielfältigungen auf dem Schwarzmarkt erhältlich.

Fast unglaublich ist folglich die Unwissenheit unter den Neuropatholo-gen, Psychoneurologen und Psychiatern. Die meisten offiziellen Mediziner sind in Wahrheit Bürokraten, die Neurosen nur symptomatisch behandeln, gewöhnlich mit Medikamenten, guten Genesungswünschen oder auch mit einer Art suggestiver Therapie. Bei den Patienten herrscht Verwirrung, da ihnen keine Mitteilung über ihre Krankheit gemacht wird. Ein sowjetischer Analytiker schrieb treffend, daß die Psychoanalyse in der Sowjetunion „ein bedeutungsloses Niveau“ erreicht hat

Für die Behandlung von Psychopathien und Psychosen hat die sowjetische Psychiatrie in ihren „Arsenalen“ Neuroleptica, Insulin-Schocks und „Foltertherapien“: die Elektro-Kon-vulsions-Therapie und die berüchtige Pyrogen-Therapie, bei der die Temperatur des Patienten stark steigt, bis er sich vor Schmerz nur noch krümmt. Diese „Heilkuren“ sollen den Patienten nur für die Gesellschaft „harmlos“ machen, als echte Behandlung sind sie keineswegs Einzusehen.

Trotz allem müssen die sowjetischen Wissenschaftler „das Unbewußte“ weiterhin untersuchen. So wurden beim psychologischen Training der Kosmonauten Methoden der Traumdeutung angewendet Die Leistungen von Sigmund Freud und seinen Nachfolgern werden jedoch niemals angeführt, ungeachtet ihres längst erwiesenen Nutzens. Der erwähnte Professor Bassin, der mit seiner Kritik an der Psychoanalyse Karriere gemacht hat, vertritt, um den modernen medizinischen Erfordernissen zu entsprechen, eine ganz kuriose Theorie: Er sagt „nicht wahrnehmbar“ statt „unbewußt“, „der weitergehende psychologische Versuch“ statt „Psychoanalyse“ und dergleichen mehr.

Diese verbale Gymnastik soll dazu dienen, den Bann zu rechtfertigen, den man einer geistig freien und wissenschaftlich objektiven psychoanalytischen Praxis auferlegt hat.

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