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Von Illusionen und anderer Kultur

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Vor einigen Wochen haben sich in Schubhaft gehaltene Albaner in einem Tiroler Gefängnis verbarrikadiert, um ihre Zurückschiebung zu verhindern, und ihre Forderung „Essen und Freiheit!" aus den Fenstern geschrien. Das Sich-Verbarrikadieren war merkwürdig, die Forderung „Essen!" - auch wenn sie vielleicht nur der Dramatisierung dienen sollte - ein eindeutiger Appell an uns, die Österreicherinnen außerhalb des Gefängnisses.

Angenommen, ein Österreicher widersetzt sich seiner Entlassung aus einem österreichischen Gefängnis und schreit seine Forderung „Essen und Freiheit!" aus dem Fenster - er wäre ein Fall für den Psychiater. Er müßte ja wissen, daß er bei uns nur Rechte geltend machen kann, wenn niemand weiß, daß er aus dem Gefängnis kommt, und daß er diese Chance nicht hat. Die Albaner hatten keine Illusionen über Albanien, aber offensichtlich Illusionen über uns. Das Verhalten unserer Behörden haben sie sicher vorher nicht richtig eingeschätzt, und unsere Gefängnisse haben sie nur nach ihren eigenen Erfahrungen beurteilt, in Diktaturen ist ja vieles anders.

In einer Diktatur kommen nicht nur Kriminelle ins Gefängnis, sondern auch Vorkämpfer, Frauen und Männer, die sich für bessere Lebensverhältnisse einsetzen, sodaß auch Menschen außerhalb des Gefängnisses sich mit den Gefangenen solidarisieren, sie brauchen, schätzen und wieder in

Freiheit sehen wollen. Im demokratischen Westen - so war offenbar die Illusion beschaffen - kommt niemand ins Gefängnis, wenn er sich für bessere Lebensverhältnisse einsetzt, für Fortschritte und Verbesserungen sind dort alle, ein Gefängnis im Westen kann also kein Aufbewahrungsort für Verfolgte, Unterdrückte, Rechtlose sein, und wenn man aus irgendwelchen Gründen trotzdem ins Gefängnis gesteckt wird, muß man sich nur bemerkbar machen, Widerstand leisten, Zeit gewinnen, die Forderung aus dem Fenster schreien, dann kommt von draußen Hilfe.

Bei kultivierten Menschen

Der Appell an uns war ein Appell an Menschen, die - schematisch gesehen - in Wohlstand leben, aber zugleich war es nicht einfach ein Appell an „die Reichen", die Illusion enthielt auch Vorstellungen von Demokratie, Menschenrechten, Kultiviertheit. Wohnkultur und Freizeitkultur, Eßkultur, Reisekultur, Schlafkultur-das haben wir doch alles und zeigen es auch her. Die Katze bekommt ihr Futter mit frischen Kräutern auf einem Tellerchen serviert, ein Auto ist mehr als ein Auto: eine Vision, ein Lebewesen, ein neues Zeitalter, alles ist anders und mehr, schöne Gebäude, gut gekleidete Menschen, kostspielige Diäten, Millionengewinne, Einkaufsparadiese, der Notarzt kommt im Laufschritt, die Bergrettung mit dem Hubschrauber, so ist das im Westen. Der Schlepper braucht nicht zu flunkern, er findet Dokumente unserer Lebenswelt, die „stimmen", unsere Wohnwelten, Ferienparadiese, Einkaufszentren gibt es wirklich, die Trachtenmusikkapellen, Liftanlagen, Seeprozessionen sind nicht erfunden, die Prospekte lügen nicht.

Wir würden einem Schlepper nicht einfach unsere Ersparnisse übergeben, ohne vorangegangene Rechtsberatung, ohne schriftliche Garantien und Absicherungen, da haben wir keine Illusionen wie diese Fremden, die alles auf eine Karte setzen, aber Ungewißheiten, gegen die es keine Absicherung gibt, decken wir anstandslos mit praktischen Selbsttäuschungen zu, da halten wir es auch mit Illusionen.

„Ja - ja, wir haben halt ein schönes Haus, aber fragen Sie mich nicht, was es kostet! Meine Frau geht arbeiten für den Unterhalt, und mein ganzer Verdienst geht auf für das Haus, seit Jahren schon, ein neues Auto könnten wir uns nicht leisten, nicht einmal einen richtigen Urlaub!" Gegen Besitz ist nichts zu sagen, nur gegen das die Hartherzigkeit beschönigende Armutsgehaben!

Die Zurückgeschobenen haben ihre Illusionen über uns, die Menschen, inzwischen verloren. Daß sie auch die schönen Häuser, die gut gekleideten Österreicherinnen, die Schlemmermenüs, die teuren Hobbies für eine Täuschung halten, kann man von ihnen nicht verlangen. Wenn jemand am eigenen Wohlstand nur die Belastung sieht, das alles auch erhalten und vermehren zu müssen, und sich so zu den Benachteiligten hinüberschwindeln will, muß er schon von unserer allumfassenden Kultur-Illusion - oder Illusions-Kultur? - wirksam kultiviert worden sein.

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