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Von Kreuz zu Kreuz

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Der große katholische Lyriker, in Ungarn beheimatet und wohnhaft, hält sich gegenwärtig in London auf.

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Der große katholische Lyriker, in Ungarn beheimatet und wohnhaft, hält sich gegenwärtig in London auf.

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Der Mensch wandelt hier auf Erden nicht sosehr von Schritt zu Schritt, er steigt vielmehr von Kreuz zu Kreuz. Schon die geometrische Form des Kreuzes ist Begegnung und Gegensatz, reiner Widerspruch. Tragik und Hoffnung zugleich. Der Schnittpunkt jenes totalen Verlassenseins und Ausgeliefertseins, wo allein die Seele schließlich fähig ist, sich ganz und endgültig in Gottes Hände zu begeben.

Das erste Kreuz ist das Kreuz des Kindesalters. Es ist aus Angst und Hoffnung gezimmert. Seinem Maß nach ist es nicht größer als ein Kind mit ausgebreiteten Armen. Doch gerade das macht es zum Kreuz: der Widerspruch, der auf unseren Körper und auf unsere Seele zugeschnitten ist. Seinem Wesen nach ist es nicht größer und nicht kleiner als die späteren. Es ist menschenähnlich und unmenschlich. Das „glückliche Kindesalter" ist eine reine Selbsttäuschung. Kind-Sein ist ebenso schwer wie Greis-Sein. So wie das Glück im Kindesalter nicht anders ist als das Glück im Greisenalter.

Der tragische Schnittpunkt des Kreuzes nämlich ist der Platz unseres höchsten Trostes und unserer höchsten Hoffnung. Das hat jede große Religion und jede Kultur gewußt. Am schönsten aber hat es Jesus formuliert: „Glücklich sind die, die weinen." Und gibt es ein tieferes Weinen als das Weinen des Kindes?

Das zweite Kreuz ist das Kreuz des ' Halbwüchsigen. Erkenntnis und Irrwege heißen seine Querbalken. Das Kreuz des Halbwüchsigen ist ein ernstes Kreuz. Seine Splitter machen uns die Tränen des verlorenen Sohnes glaubhaft. Dieser Sohn ist in seiner Sünde das authentischeste Symbol für den Sohn Gottes, so wie das verlorene Lamm für das Lamm Gottes,

Wie ist das möglich? Vielleicht, weil auch die „Muttersprache" aller Symbole so etwas wie ein Treffpunkt der Gegensätze ist: ebenso, wie die beiden Querbalken des Kreuzes. Dafür, daß dieses Treffen möglich ist und vielmehr noch der einzige und höchste Treffpunkt des auseinanderstrebenden Alls, gibt es nur eine Erklärung. Die, daß wir über alles hinaus, schon hier auf Erden, im Vater eins sind.

Das dritte Kreuz ist das Kreuz des Erwachsenenalters. Unter den Kreuzen ist es vielleicht das steilste. Ach, diese beiden auseinanderstrebenden, sich treffenden Balken! Jetzt müssen wir uns an die Welt anpassen und gleichzeitig lernen, ihr zu entsagen. Der Schnittpunkt dieses Kreuzes - wo sich unser Kopf anpaßt, wo man unseren Kopf angepaßt hat - ist vielleicht das beste Beispiel für das Evangelien-Paradoxon:

„Wer das Leben gewinnen will, muß es verlieren."

Jetzt müssen wir am deutlichsten erkennen, daß Haus und Wagen nicht unser Heim sein können. Alles und alle treiben uns dazu an. Jetzt müssen wir an Jesus denken, und auch an Van Gogh, an Schubert... Jetzt müssen wir der Anziehung der Erde, der leiblichen Bedeutung von Liebe und Gerechtigkeit am heftigsten widerstehen. So wie Christus bekannt hat: „Wer in der Wahrheit mit mir eins ist, der ist mein Bruder, mein Verwandter, meine Mutter..." Harte Worte in den Augen der Welt. Doch an dem Kreuz? Dort ist diese Sprache der liebevollste Trost des sanftmütigen Gottes, die gute Nachricht der einzig möglichen Heimat.

Das letzte Kreuz ist das Kreuz des Greisenalters. Das schwerste und das leichteste zugleich, da es das letzte ist. Daher ist es das irrealste und das realste zugleich. Seine Namen: ölberg, Agonie. Wir kennen drei Arten davon. Das eine gehört Jesus. Das zweite gehört dem rechten, das dritte dem linken Schacher. Uns, hinfälligen Menschen, sollte es genügen, daß wir - wenn wir von unserem letzten Kreuz sprechen, über das letzte Kreuz nachdenken - das Kreuz des rechten Schachers wählen.

Was das bedeutet? Erstens: Daß wir unser Herz und unsere Augen auf dem mittleren Kreuz haften lassen und unser Selbstvertrauen in das Vertrauen, unsere Wahrheit in die Wahrheit, unsere mit Eifersucht vermischte „Liebe" in die Liebe, unser Urteil in Reue und Bekenntnis umwandeln. „Der Rest ist Schweigen", bekannte Hamlet. Und der rechte Schacher: „Der Rest ist Gnade. Der Rest ist reines Schweigen ..." Was uns noch bleibt, ist das Kreuz, das Uberragen und das endgültige Verstummen jedes Widerspruches. Endlich und zuletzt Friede mit allem und mit allen.

Und das Kreuz des linken Schachers?

Seien wir zuversichtlich, daß der Vater, unser aller barmherzige Gott, sogar diesen bis zum letzten Augenblick bestehenden, auseinanderstrebenden Widerspruch. Unfrieden und Zwiespalt, dieses fanatische Gespaltensein, in seine unwiderstehliche Gnade aufgenommen, uns mit allem und allen in seinem göttlichen Frieden vereinigt und uns nicht dem alles und alle ausschließenden Nichts überlassen hat. Seine verstummenden Lippen waren ein einziges, großes Gebet - für uns alle.

Aus dem Ungarischen von Eva und Roman Czjzek

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