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Digital In Arbeit

Von links gegen Brandt & Co.

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Streiks, erst recht wenn es „wilde“ sind, pflegen im ordnungsliebenden Deutschland meist Anzeichen einer besonderen wirtschaftlichen und politischen Situation zu sein und ziehen daher immer magisch die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. So schreckten die von den Gewerkschaften nicht genehmigten Ausstände in der Metallindustrie an Rhein und Ruhr denn auch die noch halb in Urlaubsstimmung befindlichen Politiker auf und machten aus dem angekündigten „heißen Herbst“ einen unerwartet „hitzigen Spätsommer“. Dabei sind die Protestaktionen der Arbeitnehmer mit ihrer Forderung nach Teuerungszulagen nur Ausdruck einer wirtschaftlichen und politischen Situation, die sich bereits seit geraumer Zeit klar abgezeichnet hat.

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Streiks, erst recht wenn es „wilde“ sind, pflegen im ordnungsliebenden Deutschland meist Anzeichen einer besonderen wirtschaftlichen und politischen Situation zu sein und ziehen daher immer magisch die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. So schreckten die von den Gewerkschaften nicht genehmigten Ausstände in der Metallindustrie an Rhein und Ruhr denn auch die noch halb in Urlaubsstimmung befindlichen Politiker auf und machten aus dem angekündigten „heißen Herbst“ einen unerwartet „hitzigen Spätsommer“. Dabei sind die Protestaktionen der Arbeitnehmer mit ihrer Forderung nach Teuerungszulagen nur Ausdruck einer wirtschaftlichen und politischen Situation, die sich bereits seit geraumer Zeit klar abgezeichnet hat.

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Ausgelöst wurden die wilden Streiks zweifellos durch die anhaltende Geldentwertung, die nach der Rückkehr aus dem Urlaub von vielen Arbeitnehmern besonders deutlich empfunden wurde. Die ständig sinkende Kaufkraft der D-Mark bewirkte, daß die in der letzten Tarif-runde ausgehandelten Lohnerhöhungen längst aufgezehrt sind. Vor allem die Metallarbeiter fühlten sich betrogen.

Die Industriegewerkschaft Metall, deren Lohnverhandlungen mit den Arbeitgebern in der jährlichen Tarifrunde Signalwirkung zukommt, hatte sich im vergangenen Jahr zurückgehalten. Mit 8,5 Prozent Erhöhung sollte ein Stabilisierungsbeitrag geleistet werden, der vor allem auch der sozial-liberalen Koalition, deren sozialdemokratischer Hälfte sich die Gewerkschaften doch sehr verpflichtet fühlen, Rückendeckung in ihrem Kampf gegen die Inflation geben sollte. Das gute Beispiel der IG-Me-täll hatte jedoch damals wenig gefruchtet. Andere Gewerkschaften prellten weiter vor und die Drucker, ohnehin in der Lohnskala ganz oben, überschritten die magische Zehnprozentgrenze.

IG-Metall sah in der Folge nicht ohne,Grund, daß sich angesichts dieser kräftigeren Lohnerhöhungen in anderen Wirtschaftszweigen und bei fortgesetzter Inflation die Arbeitnehmer ihrer Branche mit dem Erreichten nicht zufriedengeben würden. Der Versuch, die Arbeitgeber zu einer außerplanmäßigen Zahlung, etwa in Form erhöhter Urlaubsgelder, zu bewegen, scheiterte, da die Arbeitgeber im Frühjahr ihrerseits auf die Stabilisierungsbemühungen der Regierung in Bonn verwiesen, die durch derartige Maßnahmen nicht unterlaufen werden sollten. Die für Arbeitgeber, Gewerkschaften und Regierung unangenehmen wilden Streiks waren die Folge. Was als Strohfeuer in Form von Ausständen vor allem von weit unterbezahlten Gastarbeitern begann, weitete sich zum Steppenibrand aus, der vor allem auch die Schlüsselindustrie der Autoproduktion ergriff.

Die Streiks sind, wirtschaftspolitisch gesehen, eine schwere Belastung für die Regierung. Ihre Stabi-litätspolitik, die nicht zuletzt auf einer Kauflkraftafoschöpfung basiert, wird an einer empfindlichen Stelle getroffen. Verhält sie sich ablehnend gegenüber den Wünschen der Arbeitnehmer, muß sie den Vorwurf einstecken, die Inflation auf Kosten des Lohnempfängers zu bekämpfen.. Ein Vorwurf, den vor allem die SPD nich^gerne hört. Nach .anfänglichem Totstellen der Regierung war denn auch die erste Reaktion, daß in vertraulichen Einzelgesprächen mit führenden Vertretern beider Seiten eine Kompromißlinie zu finden versucht wurde.

Mit ihrer Weigerung, die progressiven Steuersätze der inflationären Entwicklung entsprechend etwas zu mildern, wird vom Kabinett Brandt-Scheel dabei seinerseits alles getan, um ein Anwachsen der Kaufkraft zu verhindern. Der Staat scheffelt immer mehr Steuergelder und denkt nicht daran, etwa auf Teile zu verzichten. Die Arbeitgeber jedoch müssen den Wünschen nach Teuerungszuschlägen wohl oder übel nachkommen. Die allgemeine Wirtschaftsentwicklung, sieht man von den empfin-lichen Zweigen der Bau- und Textilindustrie ab, erlaubt die Zahlung der Zuschläge. Die Arbeitgeber können sich auch nicht mehr auf die Stabilitätspolitik der Regierung berufen. Denn in Bonn, vor die Wahl gestellt, die Inflation langsamer als vorgesehen zu bremsen oder politische Unruhen einzuhandeln, entschied man sich für die politische Ruhe.

Denn über die wirtschaftliche Bedeutung hinaus steckt in den Streiks eine große politische Sprengkraft. Alle links von den Gewerkschaften stehenden Gruppen, Kommunisten, Maoisten und in jüngster Zeit Teile der Jusos, versuchen vehement mit diesen Streiks oder in deren Gefolge Politik in ihrem Sinne zu machen. DKP und Maoisten sind freilich nicht so stark, daß sie derartige Streiks allein entfachen könnten, wenn nicht heftiger Unmut in der Arbeitneh-merschaft bestünde. Die Belegschaften der meisten Betriebe haben sich auch gegen die extremen Parolen dieser Gruppen bisher restistent erwiesen. Eine Gefahr bedeuten sie aber doch mit ihren Versuchen, über derartige Streiks der Regierung Schlappen beizubringen.

Eine, Gefahr, die auch die SPD trifft, deren Jusos sich schon im Sommer offen für solche Ausstände mit extrem hohen Lohnforderungen ausgesprochen und teilweise dabei offen bekannt hatten, daß es darum gehe, das kapitalistische System zu überwinden. Die SPD sieht sich daher in der schwierigen Lage, eine Politik zu betreiben, die nach herkömmlichen Regeln der Wirtschaftspolitik antiinflationär ist, zugleich aber so sehr auf die Interessen der Arbeitnehmer Rücksicht nimmt, daß diese nicht den Extremisten verfallen.

Die Jusos stürzen die SPD in eine beachtliche Krise, wenn sie für Lohnerhöhungen plädieren, deren Ausmaß die Inflation anheizen und damit in erster Linie die Sparer treffen würde, während die Besitzer am Produktivvermögen, wie immer bei Inflationen, weit besser wegkämen. Hier muß die SPD-Führung einen sozialen Kurs der Wirtschaftspolitik gegen Leute im eigenen Lager führen, die bei betont sozialen Schlagworten eine im Grunde unsoziale Politik treiben.

So sind die Streiks auch Zeichen einer starken politischen Krise, die nicht nur die SPD selbst betrifft. Zu lange hat die Regierung in innenpolitischen und wirtschaftlichen Fragen nicht ausreichend gehandelt. Nun wird ihr dafür die Rechnung präsentiert. Sollten CDU/CSU und ihre teilweise neuen Spitzenmänner in diesen Bereichen ihre Oppositionspolitik neu und gezielt beginnen, könnte den Unionsparteien tatsächlich gelingen, was ihnen schon lange nicht glückte, nämlich: der Regierung wirklich mit Erfolg gegenüberzustehen. Tut sie das, dann könnte der vom CDU-Vorsitzenden Kohl angekündigte innenpolitische „heiße Herbst“ wirklich kommen.

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