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Von Modena nach Venedig

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Modena, Genua, Venedig; drei Historikertreffen in diesem Herbst, zeitlich aufeinanderfolgend — mit der Uberschneidung von einigen Tagen des ersten, des Muratori-Kongresses in Modena, mit dem Mazzini gewidmeten in Genua —, boten dem Gast aus Österreich Gelegenheit zu einer anregenden und interessanten Reise durch drei Jahrhunderte italienischer, österreichischer und europäischer Geschichte.

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Modena, Genua, Venedig; drei Historikertreffen in diesem Herbst, zeitlich aufeinanderfolgend — mit der Uberschneidung von einigen Tagen des ersten, des Muratori-Kongresses in Modena, mit dem Mazzini gewidmeten in Genua —, boten dem Gast aus Österreich Gelegenheit zu einer anregenden und interessanten Reise durch drei Jahrhunderte italienischer, österreichischer und europäischer Geschichte.

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An den Plakatwänden liest man zwar einen Aufruf, Modena vor dem Erstickungstod durch die Automobile zu schützen, aber die Hauptstadt des einstigen estensischen Herzogtums — das im 19. Jahrhundert zusammen mit Parma spöttisch „le fattorie austriache“ (die österreichischen Meierhöfe) genannt wurde — bietet im Vergleich zu anderen Städten Ober- und Mittelitaliens noch immer den Eindruck der Ruhe und Gelassenheit. Ein idealer Rahmen für eine internationale Tagung zur 300-Jahr-Feier der Geburt des großen Universalgelehrten und Polyhistors Ludo-vico Antonio Muratori (1672 bis 1750), der ein langes stilles Gelehrtenleben als Bibliothekar und Archivar des Herzogs von Modena und als vorbildlicher Pfarrer von Santa Maria Pomposa (heute als „Aedes Muratoriana“ Zentrum der Muratori-Studien) vollbrachte; der nie in Rom oder Neapel war, dessen ungeheurer, ausgedehnter Briefwechsel mit allen führenden Geistern und Gelehrten seiner Zeit aber ganz Europa umfaßte. Mit Recht hat Paul Hazard von ihm geschrieben, daß seine literarischen, philosophischen, juristischen, medizinischen, religiösen und polemischen Schriften, die ausreichen würden, den Ruhm eines anderen zu begründen, nur die Ergebnisse der Erholungsstunden von seiner Hauptarbeit als Geschichtsforscher waren. Dabei klagt er in einem seiner etlichen tausend Briefe, er könne im Sommer wegen des Sci-rocco und im Winter, wenn es zu kalt sei, nicht arbeiten!

Gelehrte aus Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Spanien, den USA und Ungarn ließen in ihren Vorträgen die ungeheure Weite der Ausstrahlung des Werkes des Mode-nesen erkennen, während für den besonders starken Einfluß Muratoris auf Österreich sogar vier Referate vorgesehen waren, von denen allerdings nur zwei (Eleonore Zlabinger und Peter Hersche) gehalten wurden.

In der „Biblioteca Estense“, wo auch der ungeheure, wissenschaftlich noch kaum ausgewertete Briefnachlaß des „bibliotecario modenese“ aufbewahrt wird, hat man eine Ausstellung der großartigen illuminierten Handschriften eingerichtet; das Glanzstück, jene weltberühmte Bibel des Borso d'Este, die im Erbgang an die Habsburg-Lothringer kam, von Kaiser Karl als Privateigentum ins Exil mitgenommen, um eine für damalige Verhältnisse astronomische Summe von Giovanni Treccani degli Alfieri erworben und dem italienischen Staat geschenkt wurde. Zwei moderne Büsten, rechts Herzog Borso, links der lombardische Multimillionär, bewachen die Glasvitrine mit diesem einzigartigen Schatz. In einer anderen Vitrine liegen einige der Werke Muratoris, von denen zwei Kaiser Karl VI., das letzte, das Handbuch des „aufgeklärten Absolutismus“ („Deila pubblica felicitä, oggetto de' buoni principi“), dem Fürsterzbischof von Salzburg, Andreas Jakob von Dietrichstein, gewidmet ist. Im Archiv, dessen Vorstand Muratori gleichfalls war, ist in einer aus Anlaß des Kongresses veranstalteten Ausstellung ein von ihm handgeschriebener Zettel mit „Regierungsvorschlägen für den Herzog von Modena“ zu sehen, der mit den Worten beginnt: „Riforma, e poi Ri-forma, e Riforma grande ...“

Eine ganz andere Atmosphäre herrscht in der dynamischen Hafenstadt Genua, auf dem 46. Kongreß des „Istituto per la storia del Risor-gimento“, der diesmal, anläßlich des 100. Todestages, der Persönlichkeit und dem Werk Giuseppe Mazzinis gewidmet ist. In die Freude des Wiedersehens mit den vielen italienischen und „nichtitalienischen“ („fremd“ wäre unzutreffend, betont mit Recht der Pole Kalikst Morawski, der diesmal die Grüße der „Nicht-italiener“ überbringt) Freunden aus der großen Familie der „Risorgimen-tisti“ mengt sich der Schmerz über das Fehlen so mancher, die seit dem Kongreß in Rom 1970 von uns gegangen sind; wie der bisherige Vizepräsident, der Neapolitaner Nino Cor-tese, oder jener stille und diskrete Ing. Loria aus Turin, der bei keinem

Kongreß fehlte, aber niemals das Wort ergriff. Aber auch der Senior der Nichtitaliener, der Franzose Fernand Boyer, ist heuer, aus Rücksicht auf seine leidende Gattin, zum erstenmal seit 1948 einem Risorgi-mento-Kongreß ferngeblieben.

Wie schon vor zwei Jahren in Rom, aber jetzt unter Berücksichtigung der dort gemachten Erfahrungen, sind die Beiträge der ausländischen Kongreßteilnehmer zunächst in zwei „Arbeitsgruppen“ zusammengefaßt. In der ersten, die Mazzinis Beziehungen zum westlichen Europa (Schweiz, Frankreich, England, Deutschland, Spanien) behandelt, steht interessanterweise mehr der „Apostel der Freiheit“, der Vorkämpfer von Demokratie, Republik und Revolution im Vordergrund, bei der zweiten, seinem Einfluß auf die osteuropäischen Völker (Slawen des Habsburger-Reiches und die anderen Südslawen, Rumänen, Polen) gewidmeten, mehr der Vorkämpfer des Nationalitätenprinzips. Von den janse-nistischen oder rigoristischen, durch seine Mutter vermittelten Einflüssen auf seine Ideenwelt ist auf diesem Kongreß weniger die Rede, vermutlich weil man früher zuviel davon gesprochen hat. Doch drängt sich die Beobachtung auf, daß nicht nur in seinem Vokabular, sondern auch in dem der „Mazzinianer“ bis auf den heutigen Tag, ja selbst in den ihm gewidmeten Worten der Historiker die religiöse Terminologie (Glaube, Märtyrer, Prophet, Opfer, Erlösung, Auferstehung usw.), auf die Nation bezogen, eine bestimmende Rolle spielt; ganz ähnlich, wie im Zeitalter der Befreiungskriege der entstehende deutsche Nationalismus die Sprache des protestantischen Pietismus in den politischen Bereich übertrug.

Das bestätigt erst recht der Besuch von Mazzinis Grab auf dem monumentalen Friedhof von Staglieno, Ziel unzähliger „Wallfahrten“ der Mazzinianer aus aller Welt und besonders natürlich aus Italien, der Mazzini-Gesellschaften und der verschiedenen Sektionen der Republikanischen Partei. Ist die Ähnlichkeit dieses Felsengrabes mit den traditionellen Darstellungen des Grabes Christi in der europäischen Kunst wirklich nur ein Zufall? Der gigantische Bronze- und Marmorwald der monumentalen Totenstadt von Staglieno weckt in mir die Erinnerung an die Worte eines nach mehrjährigem Aufenthalt aus Genua in die Heimat zurückkehrenden Neapolitaners, mit dem ich vor dreißig Jahren im Zug von Rom nach Neapel ins Gespräch kam: „Wenn Sie wissen wollen, wie man in einer Stadt lebt, müssen Sie den Friedhof besuchen. Der von Neapel ist armselig, der von Genua großartig. Das beweist, daß die Neapolitaner zu leben verstehen, nicht aber die Genuesen, die ihr Geld den Erben für die Ausstattung der Grabdenkmäler hinterlassen.“ Doch hat die Vorliebe der nüchternen Genueser Großkauf leute, Reeder und Unternehmer für klassizistischen oder neugotischen Gräberprunk im Grunde etwas Rührendes. Wenngleich das vielleicht schönste Grabdenkmal jenes der Caterina Campodonico ist, einer alten Frau aus dem Volke, die im Hafenviertel Brot und Nüsse verkaufte, mit ihren Ersparnissen von einem jungen begabten Bildhauer eine lebensgroße Marmorstatue von sich im Sonntagsstaat verfertigen und schon drei Jahre vor ihrem Tod auf dem Friedhof aufstellen ließ.

Das zweite Italienisch-Österreichische Historikertreffen, gewidmet der jüngsten Geschichte beider Länder, fand dank dem Entgegenkommen der „Fondazione Giorgio Cini“ auf der Isola di San Giorgio Maggiore in Venedig statt. Im Vorjahr hatten wir im „Grillhof“ bei Igls, inmitten der Tiroler Wälder und Berge, getagt. Wird durch diesen Gegensatz nicht ein tiefer Grund für die Schwierigkeiten nachbarschaftlicher Verständigung deutlich? Die Tatsache nämlich, daß, wie Otto Brunner in seinem eben heuer, 23 Jahre nach der deutschen Ausgabe in italienischer Übersetzung erschienenen Buch „Adeliges Landleben und europäischer Geist“ ausgeführt hat, die Kultur Österreichs primär eine adelig-bäuerliche war, die Italiens hingegen eine städtisch-patrizische?

Doch gilt unsere Tagung ja den Gegenwartsproblemen, und auch die Marmortafel im prunkvollen Stiegenaufgang aus dem ersten großen Hof des einstigen Benediktinerkonvents, die an den Besuch Josephs II. und seiner drei Brüder Leopold, Ferdinand und Maximilian anläßlich ihres Treffens bei der fürstlichen „Touristenattraktion“ des venezianischen Himmelfahrtsfestes 1775 erinnert, ist nur eine reizvolle Reminiszenz und eine Art Ouvertüre zu den politischen Begegnungen, die von jener Franz Josephs und Viktor Emanuels II. in Venedig im Jahre 1875 bis zur Zusammenkunft Kreisfcy-Piccioni hier, auf der Isola di San Giorgio, im Jahre 1962 reichen. In den Referaten der italienischen wie der österreichischen Teilnehmer wird die wirre und leidvolle Vergangenheit, die wir alle noch irgendwie miterlebten, nun als Gegenstand historischer Forschung lebendig; das Renner-Nitti-Abkom-men und das „Protokoll von Venedig“ mit der Lösung der Burgen-landfrage durch italienische Vermittlung, Geheimabkommen zwischen Südtirolern und Slowenen (auch hier in Venedig abgeschlossen), ein Geheimabkommen zwischen Heimwehr und Schutzbund gegen die gerüchteweise auftauchende Gefahr des Einfalls faschistischer Banden nach Nordtirol, der phantastische Plan einer „tirolischen Herzogskrone“ für das Haus Savoyen, Mussolinis

„Wacht am Brenner“ 1934 und die Opferung Österreichs 1938, das Umsiedlungsabkommen der beiden Diktatoren und seine Auswirkungen, das Gruber-De-Gasperi-Abkommen und seine Interpretation, Autonomiestatut, Bombenterror und behördliche Repression, „Paket“ und „Operationskalender“. Zwei italienische Tagungsteilnehmer weilten vor 1938 und einer nach 1945 in offizieller Funktion in Wien, drei österreichische Tagungsteilnehmer wurden in Südtirol als italienische Staatsbürger geboren, und auch die italienischen Gefängnisse sind nicht allen

österreichischen Delegationsmitgliedern unbekannt geblieben.

Für Muratori waren die kaiserlichen Verbündeten im Streit um das vom Herzog von Modena beanspruchte Comacchio im Po-Delta, Karl VI. und der Erzbischof von Salzburg, Gönner und Förderer; in Mazzinis säkularisierter politischer Nationalreligion war dem „Austri-aco“ die Rolle des Teufels, des personifizierten bösen Prinzips, zugeteilt. Ist die Hoffnung verwegen, daß nach den Irrungen und Wirrungen unseres Jahrhunderts auf These und Antithese die Synthese gutnachbarlicher Beziehungen im Zeichen einer höheren europäischen Gemeinschaft folgt?

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