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Von Wien organisiert, von Wien regiert...

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Ich darf meine Ausführungen über Begriff und Bedeutung des österreichischen Föderalismus auf Forschungsergebnisse bauen, die ich zum österreichischen Föderalismus seit vielen Jahren wissenschaftlich erarbeitet und der österreichischen Öffentlichkeit vorgelegt habe. Die Theorie im deutschen Sprachraum unterscheidet zwischen Bundesstaat und Föderalismus. Die bundesstaatlichen Doktrinen sind meist juristische Lehren über die Struktur eines Staates, der sich selbst als Bundesstaat bezeichnet, die föderalistischen Thesen sind Doktrinen und Grundsätze, die sich mit jenen Kräften befassen, die in der Regel eine bundesstaatliche Staatsstruktur bewegen. Anders ausgedrückt: die föderalistischen Thesen sind die Politologie vom Bundesstaat.

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Ich darf meine Ausführungen über Begriff und Bedeutung des österreichischen Föderalismus auf Forschungsergebnisse bauen, die ich zum österreichischen Föderalismus seit vielen Jahren wissenschaftlich erarbeitet und der österreichischen Öffentlichkeit vorgelegt habe. Die Theorie im deutschen Sprachraum unterscheidet zwischen Bundesstaat und Föderalismus. Die bundesstaatlichen Doktrinen sind meist juristische Lehren über die Struktur eines Staates, der sich selbst als Bundesstaat bezeichnet, die föderalistischen Thesen sind Doktrinen und Grundsätze, die sich mit jenen Kräften befassen, die in der Regel eine bundesstaatliche Staatsstruktur bewegen. Anders ausgedrückt: die föderalistischen Thesen sind die Politologie vom Bundesstaat.

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Es gibt keine einheitliche föderalistische Theorie. Sie ist bestimmten Bewegungen angepaßt. So gibt es einen zentripetalen.und einen zentrifugalen Föderalismus. Der zentrifugale Föderalismus bezieht sich auf Kräfte und Strömungen in einem Gemeinwesen, das, ohne die staatliche Einheit aufzugeben, einzelnen Gliedern eines Gemeinwesens größere Selbständigkeit oder Selbstregierung zuerkennen will; der zentripetale Föderalismus bezieht sich auf Kräfte und Strömungen in von einander getrennten Gemeinwesen, die darnach trachten, diese noch getrennten Gemeinwesen durch juristische Konstruktionen enger oder loser miteinander zu verbinden. Das Beispiel für den zentrifugalen Föderalismus möge man vor allem in der Geschichte der Schweizer Eidgenossenschaft erblicken, das Beispiel des zentripetalen Föderalismus in der Geschichte der ehemaligen britischen Kolonien Nordamerikas, die sich zum Bundesstaat der USA geformt haben. Jeder Föderalismus hat seine eigenen Kräfte, seine eigene Geschichte, seine eigenen “Spezifika. Der europäische Föderalismus ist anders zu sehen als der deutsche Föderalismus und wieder anders als der österreichische. Der Föderalismus in kommunistischen Staaten (scf.“^n '*pra*'■* ÜassKr der Tschechoslowakei, Jugoslawien) hat eine andere Gestalt als der Föderalismus in westeuropäischen Staaten. Allen Föderalismen ist als ein Grundelement das Bündnis zwischen Gemeinwesen und der Rückbezug auf irgend eine Form der Selbstbestimmung eigen.

„Verschüttetes Bewußtsein“

Auch Österreich kennt diese beiden Elemente, wenngleich sie nicht immer ins Bewußtsein treten — weder im Bewußtsein der Historiker noch der Politiker. Das Bündnis der österreichischen Gemeinwesen hat sich durch mehrere Epochen österreichischer Staatlichkeit hindurchgezogen. Da haben wir einmal die Erb-und Heiratsverträge der österreichischen Herrscher, dann die Bündnisse der Herrscher mit den österreichischen Ständen. Und schließlich das Bündnis österreichischer Länder selbst, die sich — auch wenn dies die Wiener historischen und juristischen Schulen nicht wahrhaben wollten — im Jahre 1918/19 zur Republik Österreich zusammengeschlossen haben (ich habe diese Vorgänge in dem Jahrbuch für das öffentliche Recht der Gegenwart 1965 eingehend analysiert); diese Länder haben sich unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker je eine Verfassung gegeben. Diese föderalistische Grundstruktur ist in Österreich aber weitgehend verschüttet. Sie wurde auch nie sonderlich geweckt. Dazu kommt ein verschüttetes föderalistisches Bewußtsein im Volke selbst. Die Struktur der österreichischen Bundesverfassung und die Haltung der österreichischen politischen Parteien, die von Wien aus organisiert und regiert werden, hat dazu in den letzten fünfzig Jahren nicht unerheblich beigetragen. Die österreichischen Länder haben einige Monate lang nach der Entstehung des republikanischen Staatswesens im Jahre 1918 zum Werden der österreichischen Bundesverfassung erheblich beigetragen (siehe die Salzburger Länderkonferenz von 1920 und die Initiative des Tirolers Doktor Mayer), dann ergriffen die politischen Parteien von Wien aus die Initiativen, die ein je unterschiedliches Föderalismusverständnis zur

Schau trugen. Für die österreichische Sozialdemokratie hat dies der derzeitige Melker Bürgermeister Doktor Wedl in einer Wiener staatswissenschaftlichen Dissertation eingehend untersucht. Die Geschichte des Föderalismusverständnisses der anderen österreichischen politischen Parteien ist noch nicht geschrieben. Die Tätigkeit der politischen Parteien weist auch keine markanten föderalistischen Tendenzen aus, auch nicht nach 1945. Die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg einberufene Länderkonferenz in Wien war so von den im Gefolge des Krieges entstandenen

Nöten getragen, daß man zentralisti-sche Vorkehrungen ergreifen zu müssen glaubte, um alle diese Nöte zu bewältigen. Zentralistisches Staatsdenken ist zu einer verhärteten Leitlinie geworden, der auch Landespolitiker bis heute nicht entraten konnten. Das auch dann, wenn sich an bestimmten Ereignissen das Volk selbst seiner föderalistischen Gefühle Luft gemacht hat. Ich erinnere nur an den Volkszorn der Vorarlberger, der sich gegen die Entscheidungen vom grünen Tisch aus wandte, ein Bodenseeschiff ohne Bedachtnahme auf die Wünsche der Vorarlberger zu taufen, ich erinnere ferner an die 150-Jahr-Feier in Innsbruck, die des Tiroler Befreiungskrieges (1809) gedachte, das war für jeden, der die Feier miterlebte, weit mehr als Folklorismus, das war im Angesicht der Wiener Politiker föderalistisches Volksbewußtsein!

Doch das sind Ausnahmen. Die Realitäten liegen in der Struktur der österreichischen Bundesverfassung, in den Verfassungen der österreichischen Bundesländer und in der Politik österreichischer Regierungen. Welche föderalistische Bedeutung die Verfassungen haben, das kann man an den Vergleichen mit anderen bundesstaatlichen Verfassungen messen: an der Verfassung der Schweizer Eid-

genossenschaft, an der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland und an der Verfassung der USA. Gewiß, vor allem in der Bundesrepublik Deutschland macht sich ein unitari-stischer Trend sondergleichen bemerkbar, doch dieser ist wiederum verständlich, wenn man bedenkt, daß die historisch gewachsenen deutschen Bundesländer bis auf Bayern und die Hansestädte zerschlagen und das deutsche Volk der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg ein Stammesgemenge aufweist, das den Föderalismus und die bundesstaatliche Struktur zu leeren Hülsen werden läßt.

Zentralistische Verfassung

Die österreichische Bundesverfassung ist trotz ihrer Aussage im Artikel 2, daß der Bundesstaat Österreich aus „selbständigen Bundesländern“ gebildet werde, zentralistisch konzipiert. Ich kann diese Behauptung hier nicht begründen. Allerdings weist die Verfassung an mancher Stelle ungemein moderne Züge auf, die erst heute ihre volle Bedeutung erkennen lassen: die österreichische Bundesverfassung bietet ein Instrumentarium, das man in seinen

hungen im Lande Tirol, anläßlich der Landesfeier 1959 neue Wege zu gehen; man kam über Ansätze nicht hinaus. Die Landesverfassungen sind keine echten föderalistischen Instrumente. Sie gleichen eher den Statuten dezentralisierter Einheitsstaaten.

Dazu kommt ein Finanzverfassungssystem, das den Bedürfnissen der Wiener Zentralen, aber nicht jenen der Bundesländer angepaßt ist. Nur ein Bundesland hat hierbei eine Sonderstellung. Das ist das Bundesland Wien. Ich will gar nicht auf jene unseligen politischen Streitigkeiten zurückgreifen, die sich von 1918 bis 1934 hingezogen haben, als man den Kampf für und gegen das „rote Wien“ mit dem Kampf um seinen Status als Bundesland und dann wieder als bundesunmittelbare Stadt (1934) führte. Ich will das Bundesland Wien nur von seinem organisatorischen Status her kennzeichnen: Es ist ein staatsrechtliches Monstrum — damit will ich die ingeniösen Ideen Kelsens keineswegs gering schätzen, die dieser bei der Konzeption der juristischen Struktur Wiens entwickelt hat: Wien ist Bundesland, Ortsgemeinde, politi-

scher Bezirk in einem. Die Organe Wiens sind durch funktionelle und personalpolitische Verflechtungen zu einem System von Verdreifachungen als Landes-, Gemeinde- und Bezirksorgane zusammengewachsen, wozu noch die Tätigkeiten in der Funktion der mittelbaren Bundesverwaltung tritt.

Wien ist nicht Österreich

Wenn man sich die Kostspieligkeiten der bundesstaatlichen Struktur an und für sich und die Österreichs im besonderen vor Augen hält, und sich dazu bewußt ist, daß das Staatswesen eine deutliche Tendenz zum unitarischen Bundesstaat durchmacht, dann wird die Frage nicht von der Hand zu weisen sein, ob sich eine derartige Staatsstruktur überhaupt lohne. Die Frage darf nicht vom Gesichtspunkt der Kosten und der Verwaltungsökonomie, sondern kann nur vom föderalistischen Bewußtsein der Österreicher in den einzelnen Bundesländern, die fast alle historisch wohl gewachsen sind, beantwortet werden. Eine entsprechende Umfrage wurde aber meines Wissens noch nicht eingeleitet. Sicher ist, daß zumindest in einzelnen Bundesländern Österreichs ein Landesbewußtsein herrscht, das für den Bürger das Land mit seinen über-

schaubaren politischen Verhältnissen zu seinem Lande macht, und er daher an dem Funktionieren des jeweiligen ihn betreffenden Verwaltungsservice in seinem Lande besonderen Anteil nimmt. Sicher ist ferner, daß die Bundeshauptstadt allein nicht Österreich ist. Sicher ist auch, daß die bundesstaatliche Struktur, wenn ihre Einrichtungen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit garantieren, eine eminent gewaltenteilende Wirkung hat — das hat übrigens schon der große Tocqueville bei der Analyse des amerikanischen Bundesstaates erkannt. Das alles hat solches Gewicht, daß man die erhöhten Kosten und den gewiß höheren Verwaltungsaufwand als er in einem Zentralstaat besteht, einer bundesstaatlichen Staatsform in Kauf nehmen müßte, um sie zu erhalten. Aber nicht nur sie zu erhalten ist notwendig, sondern sie wesentlich zu verbessern, sie den modernen Bedürfnissen von Staat und Gesellschaft, von europäischer Integration anzupassen. Gerade für diese gilt es, den Ländern erhöhte Bewegungskraft zu geben, sie für den von Straßburg seit Jahren erarbeiteten europäischen grenzüberschreitenden Föderalismus aus-

zubauen. Die westösterreichischen Bemühungen um die Alpenregion sind ein besonderes Beispiel der integrierenden Kraft gerade dieser Idee (siehe Hans R. Klecatsky, FURCHE 16/1973).

Nicht anders, jedoch erschwerender liegen die Reigionalismuspro-bleme im Donauraum. Wenn man die Bundespolitik überblickt, so erkennt man keine Zeichen dafür, daß die bundesstaatliche Struktur Österreichs im Laufe der vergangenen Jahrzehnte wesentlich verbessert worden wäre. Wenn man die Geschichte und das Geschick des Länderforderungsprogramms verfolgt, seine Abstriche in der Regierungsvorlage der Regierung Kreisky, die derzeit im Parlament nicht weiter behandelt wird, weil man eine Kompetenzverkürzung der Länder ohne jede Vorabsprache in diese Regierungsvorlage eingebaut hat, erkennt, so wird das Bedenken gerechtfertigt sein, an dem österreichischen Föderalismus zu zweifeln. Wenn sich die Landespolitiker aller Bundesländer ihrer staatspolitischen Aufgabe bewußt sind, dann könnte der Föderalismus auch in der Gegenwart eine dem ganzen Staatswesen dienende Dynamik erhalten, die nicht als rückschrittlich und vom Kantönligeist gekennzeichnet ist.

Ansätzen durchaus für tauglich ansehen kann, einen kooperativen und nicht imperativen Bundesstaat zu formen. Dennoch gehen diese Ansätze nicht so weit, daß man mit ihnen auf jenen Sachgebieten etwas anfangen könnte, die gerade heute in den Mittelpunkt staatspolitischen Interesses getreten sind: die Kooperation auf dem Gebiet eines effektiven umfassenden Umweltschutzes oder, modern ausgedrückt, einer ökologischen Politik. Während man in einigen Sachgebieten zum Mittel der Verfassungsbestimmung griff, um zentralistische Interessen, die parteipolitische Züge trugen, durchzusetzen, gibt es in der bundesstaatlichen Kooperation auf dem Gebiete der Planung und des Umweltschutzes noch keinen Fortschritt.

Die Verfassungen der österreichischen Bundesländer, die Koja in seiner Habilitationsschrift nachgezeichnet hat, weichen nur in Nuancen voneinander ab. Sie gleichen wie ein Ei dem anderen. Verfassungen aus den zwanziger Jahren, die wenig verfassungspolitische oder föderalistische Intuition erkennen lassen. Von Wien aus wird auch jede Regung, hier einmal echte Abhilfe zu schaffen, im Keime erstickt. Aus eigener Erfahrung weiß ich um die Bemü-

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