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Vor dem Ende der Bourguiba-Ara

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Nach den blutigen Brotpreisunruhen in Tunesien hat Präsident Habib Bourguiba, der dienstälteste arabische Staats- und Regierungschef, wieder einmal einen Sündenbock gefunden, diesmal Innenminister Driss Guiga. Bourguiba enthob ihn seines Amtes und verkündete unter dem Jubel des Volkes die Rücknahme der drastischen Preiserhöhungen für Brot, Grieß und Teigwaren.

Statt der Grundnahrungsmittel sollen Luxusgüter, Benzin und Alkoholika teurer werden. Ein neuer Staatshaushaltsplan soll den Bedürfnissen der armen Bevölkerungsschichten, künftig mehr Rechnung tragen.

Die große patriarchalische Autorität Bourguibas und die Freudenkundgebungen können nicht darüber hinwegtäuschen, daß in Tunesien die Bourguiba-Ära zu Ende geht. Seit mehr als 25 Jahren wird der kleine Maghrebstaat von Habib Bpurguiba regiert. Das 1956 unabhängig gewordene Tunesien ist identisch mit dem Lebenswerk des „Combattant Supreme", des „obersten Kämpfers".

Man hat ihn einen „republikanischen Monarch", einen „aufgeklärten Diktator" und einen „nordafrikanischen Tito" genannt. Der „Bourguibismus", den das zwischen Libyen und Algerien eingekeilte Sechseinhalb-Mil-lionenland praktiziert, wurde als Politik der Vernunft, des Kompromisses, der geschickten Anpassung verstanden.

In keinem anderen Land Nordafrikas wurde für Erziehung mehr und für Verteidigung weniger ausgegeben, liegt die Einschulungsquote höher, ist das Militär unbedeutender als in Tunesien. In

Die Brotpreisunruhen von Anfang Jänner haben gezeigt: Auch im ehedem als stabil geltenden Tunesien brodelt es gewaltig an der Basis. Die große Krise wird aber wohl erst nach dem Tode von Präsident Bourguiba kommen.puncto Lebensstandard steht das rohstoffarme Land besser da als Algerien und Marokko. Als Ferienland verbucht es den Löwenanteil des maghrebinischen Tourismus.

In der Öffentlichkeit, bei offiziellen Anlässen und Parteiveranstaltungen, tritt der jetzt achtzigjährige Präsident kaum noch auf. Er ist seit langem ein kranker, gebrechlicher Mann. Mehrere Schlaganfälle, ein Leberleiden und Schlaflosigkeit haben ihn gezeichnet.

Täglich erscheint Bourguibas Konterfei in den Zeitungen. Es fehlt nicht an Ergebenheit und Lobhudelei; andererseits gilt Kritik am Präsidenten als schwere Beleidigung, sie wird mit unverhältnismäßig hohen Gefängnisstrafen geahndet.

Trotzdem wagen Tunesier eher ein kritisches Wort über die Staatsmacht als Algerier und Marokkaner. Bourguiba selbst hat es in seiner langen Amtszeit verstanden, immer wieder Sündenböcke für fragwürdige Entscheidungen und Fehlentwicklungen zu finden.

In Tunesien weiß jedes Kind, daß Bourguiba das letzte Wort behält. Sein paternalistischer Regierungsstil findet unter älteren Tunesiern mehr Sympathie als unter der Jugend. „Die Regierung gibt uns Bildung, aber kein Brot", sagen viele junge Leute. Zu jeder Tageszeit sind die Straßen und Cafes voll von Arbeitslosen und Unterbeschäftigten, vorwiegend jungen Männern, die nach ihrem Schulabschluß keinen adäquaten Arbeitsplatz finden.

Wer in Nordafrika schreiben und lesen kann, fühlt sich zu Höherem berufen als zu mäßig bezahlter Land- und Fabrikarbeit. Mancher träumt von einem gutbezahlten Job im Ausland, sei es in Europa oder in einem reichen arabischen Entwicklungsland. Vielfach ernährt ein Arbeitender die Großfamilie. Zehntausende sind vom Land in die Städte geströmt, wo sie bessere Lebensbedingungen erhoffen.

Heute fragt man sich in Tunesien, ob unter Bourguiba für Erziehung nicht schon zuviel und für Verteidigung zu wenig getan wurde. Dem riesigen Waffenarsenal, das sich das ölreiche Nachbarland Libyen unter seinem expansionslüsternen Revolutionsführer Ghadafi mit Hilfe der Sowjetunion geschaffen hat, hat Tunesien nicht viel entgegenzusetzen. In der Unzufriedenheit vieler junger Tunesier liegt ein Zündstoff, den sich Ghadafi für seine subversive Politik zunutze macht.

Aber Gefahr droht auch von religiösen Eiferern in Tunesien. Angeregt vom Beispiel Chomeinis rühren sich seit einiger Zeit fundamentalistische islamische Gruppen; sie sehen das Heil in den Lehren des Koran und wenden sich gegen Bourguibas säkulari-stische Reformen, nicht zuletzt gegen die weit fortgeschrittene Frauenemanzipation. ' Die große Krise in Tunesien wird erst nach dem Tode Bourguibas kommen.

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