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Vor dem Ende des Sowjetreiches

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Der Staatsstreich reformfeindlicher Kommunisten vom 19. August, dessen Gründe, Führung und Verlauf noch immer nicht geklärt sind, wurde durch das russische Volk früher als für möglich gehalten beendet. Die Führung des Putsches ist verhaftet. Innenminister Pugo hat sich erschossen. Gorbatschow ist glanzlos in den Kreml zurückgekehrt. Jelzin gibt jetzt die Befehle. Ist er nun - wie einst Gorbatschow - ohne Bindung an demokratische Strukturen der Garant für Demokratie?

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Der Staatsstreich reformfeindlicher Kommunisten vom 19. August, dessen Gründe, Führung und Verlauf noch immer nicht geklärt sind, wurde durch das russische Volk früher als für möglich gehalten beendet. Die Führung des Putsches ist verhaftet. Innenminister Pugo hat sich erschossen. Gorbatschow ist glanzlos in den Kreml zurückgekehrt. Jelzin gibt jetzt die Befehle. Ist er nun - wie einst Gorbatschow - ohne Bindung an demokratische Strukturen der Garant für Demokratie?

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Nachdem Gorbatschows Reformprozeß mit Glasnost (Gedankenfreiheit, Pressefreiheit, Koalitionsfreiheit, Religionsfreiheit) den Sowjetbürgern alle Rechte gegeben hatte, hat Perestrojka (Umgestaltung) nichts anderes zuwege gebracht als Hunger, Wirtschaftsmisere, leere Warenhäuser -und schließlich den Zerfall der UdSSR. Deswegen wollten die Putschisten das „Reich" (siehe Graphik) retten. Spekulationen wollen darüber nicht verstummen, ob Gorbatschow beim Staatsstreich Opfer oder treibende Kraft war. Allerdings, warum sollten ein KGB-Chef Krjutschkow, ein Innenminister Pugo oder Ministerpräsident Walentin Pawlow beziehungsweise Vizepräsident Gennadi Janajew für Gorbatschow den Kopf hinhalten? Aber niemand in der Sowjetunion hat vergessen, daß in sch we-ren Krisen Gorbatschow sonderbarerweise immer abwesend war: das war so bei der blutigen Niederschlagung der baltischen Unabhängigkeitsbestrebungen, das war bei den Repressionen im Kaukasus der Fall.

Mit dem Ziel, die Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen, haben die Putschisten die Geschäfte mit Lebensmitteln nur so überfüllt. Damit wollte man die Bereitschaft zur Sanierung der Wirtschaft signalisieren. Die Botschaft wurde gehört, Glauben wurde ihr keiner geschenkt. In Moskau, in Leningrad - jetzt wieder Sankt Petersburg -, aber auch in den Republiken bestanden Hunderttausende auf der Rückkehr zur Legalität. Diese Volksbewegungen waren keine Sympathie- oder Mitleidsbekundungen mit Michail Gorbatschow, sondern in erster Linie die Forderung nach Legalität.

Giftiges Geschenk

In zweiter Linie stand die Angst vor blutigen Auseinandersetzungen zwischen den sowjetischen Nationalitäten im Hintergrund, die Angst vor einem eventuellen Bürgerkrieg; und schließlich die Angst vor Repressionen gegen die Menschenrechte ä la Breschnew.

Die Bevölkerung hat aber das giftige Geschenk - mit vollem Mund den Mund zu halten gegenüber undemokratischen Maßnahmen - nicht angenommen. Der Widerstand mit dem Ziel der Rückkehr auf die Wege des. Rechts war sehr vielfältig: Separatisten und Reformintellektuelle, progressive Politiker und progressive orthodoxe Gläubige waren seine Träger. Der von Gorbatschow bestiegene Zug der Freiheit und des politischen Pluralismus hat den „Homo Sovieticus" verwandelt. Es scheint, als ob in der augenblicklichen historischen Evolution des Riesenreiches keine Diktatur mehr möglich wäre.

Der lange Zeit im Westen wegen seines Populismus verrufene russische Präsident Boris Jelzin ist der politische Gewinner der jüngsten Ereignisse. Er kann es sich leisten, im russischen Parlament von Gorbatschow zu verlangen, die Mitschrift einer Sitzung des Ministerkabinetts zu verlesen, die der Staatspräsident vorher nicht zu Gesicht bekommen hatte. Die westliche Welt ist auch plötzlich bereit, Jelzin zu adoptieren. Das Europaparlament hat Jelzin sogar für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen.

Die Verurteilung des Putsches durch den Westen geht auf eine Art Verfolgungswahn zurück, die sowjetische Hydra wieder im Nacken, den Kalten Krieg wieder vor den Toren zu haben. Ein gelungener Staatsstreich in der Sowjetunion hätte alle Projekte wie das „gemeinsame europäische Haus", die „europäische Konföderation" oder die „neue internationale politische Ordnung" wieder einfrieren lassen können. Trotzdem sollte der Westen nicht vergessen, daß er mit seinen Forderungen an Moskau - anstatt mit konkreter Unterstützung fürGorbatschow die sowjetische Wirtschaftslage sanieren zu helfen - auf Dauer die reformfeindlichen Kommunisten nur frustrieren und herausfordern konnte, das zu tun, was sie eben jetzt versucht haben.

Welche historische Rolle Gorbatschow in den vergangenen sechs Jahren auch immer gespielt hat, der vom Volk vereitelte Staatsstreich bedeutet offenbar sein politisches Todesurteil.

Politische Hysterie

Einige Wochen vordem Putschversuch hat Gorbatschow im Plenum des Zentralkomitees der KPdSU vorgeschlagen, die Kommunistische Partei in eine Sozialdemokratische Partei umzuwandeln. In diesem Zusammenhang ist es mehr als unverständlich, daß er sich dann bei seiner jetzigen Rückkehr aus der Isolation auf der Krim noch immer als Kommunist gab. Immerhin hat Gorbatschow verstanden, daß er mit dieser Treuebezeugung für immer eine Geisel der reformfeindlichen Kommunisten gewesen wäre - deswegen sein Rücktritt als Generalsekretär der KPdSU am Samstag, 24. August.

Kommunist oder nicht - Gorbatschow sieht den Übergang seines Landes in die Ära der De-Kommuni-sierung. In der Tat, nach der elektrisierenden Atmosphäre während des Staatsstreichs sind die Sowjets in politische Hysterie verfallen. Das führt zu verfassungsverletzenden Akten -und zur Verletzung eines bedeutenden Prinzips der Demokratie, des politischen Pluralismus.

Die Staatschefs einiger Republiken - allen voran die baltischen - haben die Tätigkeit der KPdSU beziehungsweise der Landes-KPs verboten, die trotz aller Reformbekundungen letzten Endes doch auf Seiten ihrer putschenden Genossen gestanden sind. Einige kommunistische Führer wurden festgenommen. Gorbatschow spricht von „Hexenjagd", niemand weiß, wohin sie führen wird. Es kann sein, daß eine neue Intoleranz in den Herzen der Republikspolitiker Platz greift, was zu einer versteckten Form der Diktatur führen kann.

Gorbatschow ist macht- und ratlos. Dieser Weg hat sich abgezeichnet, als es zu einer Trennung der Staats- und dann sogar der Parteiämter zwischen Sowjetunion und Rußland gekommen war. Plötzlich gab es da einen Unionspräsidenten ohne Union und einen Generalsekretär ohne Gesamtpartei. Jetzt ist der Sowjetpräsident mit dem russischen Republikspräsidenten übereingekommen, bei Amtsbehinderung jeweils gegenseitig einzuspringen - was verfassungswidrig ist. Aber mit Verfassungswidrigkeiten, ständigen Abänderungen und kurzfristigen Aussetzungen hat man schon seit längerem das Riesenreich -vergeblich - zu regieren versucht. Kommen die Länder der Sowjetunion über eine Quasi-Diktatur zur vollen Demokratie?

Gorbatschow hat nur mehr die „Ehre" als Präsident wie die Königin von England über den Commonwealth zu regieren. Der Putsch, der die Union festigen wollte, hat zur übereilten Auflösung des Sowjetreiches geführt.

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