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Vor dem Spielchaos?

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Die meisten Münchener sind schon jetzt — vier Monate vor dem Spec-taculum mundi auf dem Oberwiesenfeld — olympiamüde, fast kein Tag vergeht, an dem nicht das drohende Verkehrschaos beschworen und der völlige Zusammenbruch der Kommunikation per Luft und Straße für die Zeit der „heiteren Spiele” prognostiziert wird. Wenn die heimischen Boulevardblätter zudem in Dauerserien München zu einem Sodom und Gomorrha hochstilisieren, führende deutsche Wochenzeitungen die bayrische Metropole als „giftigste, teuerste Stadt der Bundesrepublik” einstufen und der neueste Schlager in preußischschnoddrigem Anmaßungston das perfekte Olympia garantiert, dann packt die jeglichen Superlativen abholden und eher dem goldenen Mittelmaß zugetanen Münchner das schiere Grausen vor dem, was ihnen andere zumuten. Steigende Mieten, stillgelegte oder hinausgezögerte Bauvorhaben werden jetzt ohne viel Federlesens dem Moloch Olympia angekreidet und es ist für die allgemeine Bewußtseinslage bezeichnend, daß es dem scheidenden Oberbürgermeister Vogel zum massiven Vorwurf seiner Amtsführung gemacht wird, er habe die Spiele nach München gebracht.

All diesen Grantlern zum Trotz muß jedoch festgestellt werden, daß die Stadt an der Isar in den letzten zwei oder drei Jahren einen „Phasensprung” erlebte. Die erfolgreiche Bewerbung von 1966 hat auf den verschiedensten Ebenen eine Kettenreaktion von beachtlicher Schubkraft ausgelöst, die Entwicklungen einer Großstadt auf dem Weg ins 21. Jahrhundert, welche sonst Jahrzehnte gebraucht hätte, im Zeitraffer bündelte und damit den Dualismus von Profitopolis und Apragmatopolis — Stadt der Arbeit und Stadt der Muße — mit allen Vor- und Nachteilen offen zutage treten ließ.

Vorerst dürften allerdings zumindest die materiellen Vorteile überwiegen. Oberbürgermeister Vogel hat in einer spät, aber wohl doch nicht zu spät erfolgten Vorwärtsverteidigung die direkten Auswirkungen einzeln aufgezählt. Neben dem größten Sportpark Europas erhält München gleichsam auf dem Teller präsentiert eine 4,2-km-U-Bahn vom Feilitzschplatz zum Oberwiesenfeld, 275.000 Quadratmeter neue Straßen, mehr als 1000 Sozialwohnungen und drei neue Schulen im Pressezentrum, rund 5000 freifinanzierte Wohnungen im olympischen Männerdorf und 1800 Studentenwohnungen im olympischen Frauendorf.

Wenn die Stadt für das 2-Milliar-den-Programm ganze 170 Millionen Mark an eigenen Mittel aufbringen muß, dann sind dies nicht viel mehr als die Heukosten für den Goldesel.

Was tun mit Stadien?

Als nicht so unproblematisch erweisen sich allerdings die Nachfolgelasten. Zwar erhält München vom Bund zu diesem Zweck eine einmalige Zahlung in Höhe von 130 Millionen, die — gut angelegt — jährlich etwas mehr als 10 Millionen abwerfen dürften. Da jedoch der laufende Betrieb allein der vier Hauptsportstätten jährlich 9 Millionen beansprucht, wird die Stadt zum Unterhalt der übrigen Gebäude und des Olympiaparks selbst noch ein Erkleckliches zulegen müssen. Im Hinblick auf den allgemeinen Nutzeffekt — Sportveranstaltungen, Kongresse, Touristenattraktionen — können diese Anlagen vermutlich verschmerzt werden.

Ein Vorgeschmack dessen, was das Stadion unter dem Hängedach zu leisten und zu vermitteln vermag, wird am 26. Mai zu verspüren sein, wenn das Fußballänderspiel Bundesrepublik—Sowjetunion das Prunkstück auf dem Oiympia-gelände sportlich einweiht. Bis zum 1. Juli sollen dann noch Verbesserungen eingebaut, die übrigen Gebäude fertiggestellt und schließlich von der Olympiabaugesellschaft feierlich an das Olympiakomitee übergeben werden.

Carl Mertz, zuständiger Geschäftsführer für die rund 60 Olympiabauten, kann demnach — wesentlich begünstigt durch den milden Winter — seinen Terminplan einhalten. Insbesondere das 165-Millionen-Projekt des Daches hat die Netzplan- und sonstigen Techniker arg strapaziert. Jetzt, da das Zelt hängt und die meisten Plexiglasgevierte montiert sind, scheinen sich die meisten Beobachter darüber einig zu sein, diese krönende Silhouette des Olympiageländes als „schwingend und beschwingend” aber „vielleicht noch etwas schwerfällig” einzustufen. Mertz selbst legt mehr technische Maßstäbe an. Nach seiner Meinung handelt es sich bei diesem Prototyp um „eine neue deutsche Ingenieurleistung, die nicht nur für München, sondern für die ganze Welt von Bedeutung sein wird”.

Auf drei Fremde ein Münchner

Daneben wird auch das Lokalkolorit auf Hochglanz poliert. Das Siegestor zu Beginn der Leopoki-straße erhält in Bälde ihre Quadriga zurück; das Isartor mit dem Valen-tin-„Musäum” wird von einer polnischen Staatsfirma restauriert und soll termingerecht noch mit einem Ferdl-Weiß-Museum angereichert werden. Hunderte von Jugendstilfassaden prangen in neuer Rot- oder Ockertünche über ihrem Schnörkelstuck, die Frauenkirche wird gänzlich renoviert und lediglich der durch einen Gerichtsbeschluß noch immer auf seine Fundamente reduzierte Neubau des Alten Rathausturms am Marienplatz macht deutlich, daß dem München von einst doch recht enge Grenzen gesetzt sind. Neue Perspektiven eröffnet dagegen die vom Rathaus bis zum Karlstor reichende Fußgängerzone. Zwischen Bäumen, Blumenkübeln,

Ufo-förmigen Ständerlampen, Bänken und Stühlen flaniert Münchens Bummelvolk, betteln indische Mönche, singen Gruppen von „Jesus-People”, sammeln Jusos Unterschriften gegen den Abtreibungsparagraphen.

Und während noch weitere Fußgängerzonen in Schwabing gebaut und woanders geplant, Museen Sonderausstellungen und Theater Sonderaufführungen vorbereiten, die Stadt immer mehr ins Olympiafieber gerät, sind bereits 2,3 von 3,8 Millionen Eintrittskarten verkauft worden. 7 Prozent aller Einwohner der Bundesrepublik wollen nach letzten Umfragen München oder Kiel während der Spiele besuchen. Rechnet man die 300.000 Ausländer hinzu, die erwartet werden, dann würde dies allein für München einen Zustrom von weit mehr ails 3 Millionen Menschen bedeuten oder anders ausgedrückt: Auf einen Münchner würden drei Gäste entfallen. Wenn dem Olympiakomitee jetzt noch Vorwürfe gemacht werden, daß es unter dem Vorwand des Geldmangels die Werbekampagne für Olympia in der Bundesrepublik eingestellt habe, dann ist dies schlechthin unverständlich. Die Olympiastadt wird, im Gegenteil, während der nächsten Monate eine großangelegte Negativ-und Abwehrkampagne einleiten müssen, sonst ersticken die heiteren Spiele in einem Chaos. Den wirklichen Vorteil von Olympia hat München erst nachher.

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