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Vor dem Sprung auf Kabul

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Teilabzug der Sowjets und Tod des pakistanischen Staatspräsidenten haben Auswirkungen auf Afghanistan: Die Mudschahedin rüsten jetzt zum Sturm auf die Hauptstadt Kabul.

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Teilabzug der Sowjets und Tod des pakistanischen Staatspräsidenten haben Auswirkungen auf Afghanistan: Die Mudschahedin rüsten jetzt zum Sturm auf die Hauptstadt Kabul.

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Im Landesinneren Afghanistans ist für die lokalen Kommandeure der Guerilla'die Stunde der Entscheidung angebrochen. Der bekannteste unter ihnen, Ahmad Schah Massud im früher heiß umkämpften Pandj-Shir-Talgebiet, bereitet die Eroberung der Hauptstadt Kabul vor. Und zwar will er das stückweise erreichen. Das heißt, er plant nicht etwa eine Großoffensive, sondern will den Regierungstruppen einen Bezirk nach dem anderen entrei-

ßen, im Stile einer Zermürbungs-taktik, die sich über Monate hinstrecken kann.

Die Bevölkerung Kabuls hatte sich während der acht Jahre sowjetischer Besatzung fast verdreifacht. Aufgrund der Zerbombung der umliegenden Landgebiete hatten die Dorfbewohner in der Hauptstadt Zuflucht nehmen müssen. Nun fordert Guerilla-Chef Massud zu einer Abwanderung der Zivilbevölkerung aus der Hauptstadt auf, um der von den Sowjets eingesetzten Regierung Nadschibullahs die Basis zu entziehen.

Massud bestreitet, mit den Sowjets einen Waffenstillstand geschlossen zu haben. Er könnte ohne Mühe die Verbindungsstraße von Kabul zur sowjetischen Grenze unterbrechen, will aber den Abzug der letzten Sowjettruppen nicht unnötig aufhalten.

Statt dessen ist er emsig damit beschäftigt, seine Einflußzone auszudehnen und eine größere Zahl regionaler Kommandeure der Mudschahedin seinem Oberkommando zu unterstellen. Der „Rat“ von mehr als hundert lokalen Guerilla-Führern, dem er vorsteht, könnte sehr wohl die Grundlage für eine zukünftige Regierung Afghanistans abgeben.

Die in Pakistan gebildete Exilregierung tut Massud verächtlich ab, obwohl er — zumindest nominell — selbst einer der darin vertretenen Parteien angehört, der „Islamischen Vereinigung“

(Dschamijat-e Islami) des Religionsgelehrten Rabbani.

Zum Präsidenten der Exilregierung wurde ein in Afghanistan fast unbekannter Afghane aus den USA bestimmt, der ebenfalls Ahmad Massud heißt. Seine wichtigste Qualifikation ist, daß er der in Saudi-Arabien beheimateten religiösen Ausrichtung der Wah-habiten angehört, die jedoch in Afghanistan unpopulär ist. Das haben inzwischen auch die Geldgeber in Riad begriffen, die sogar eine Delegation zum Mudschahe-din-Führer Massud in das entlegene Talgebiet im Inneren Afghanistans entsandten.

Problematischer ist die Rivalität unter den Guerilla-Kommandeuren im Landesinneren. Der kühnste Chef der Mudschahedin im Bereich Kabuls, Abdul Haq, bereitet sich ebenfalls zum letzten Sturm vor. Abdul Haq, der einer anderen politischen Partei als Massud angehört, hat etwas großsprecherisch verlauten lassen, Massud könne in seiner Regierung Minister werden, was dieser jedoch lachend zurückgewiesen hat.

Die Zerrissenheit der Guerilla-Chefs entsprechend den regionalen und stammesbedingten Gegebenheiten des Landes war bislang eine wirksame Waffe der Mudschahedin, weil es dadurch den Sowjets nicht gelang, die Spitze des Widerstands zu eliminieren. Jetzt wirkt sich diese Zerstückelung eher gegenteilig aus.

Der wichtigste Störenfried in den Vereinigungsbestrebungen der Mudschahedin ist weiterhin Gulbuddin Hikmatyar, Chef der „Islamischen Partei“ (Hizb-e Islami). Als Günstling des umgekommenen pakistanischen Staatschefs Zia ul-Haq erhielt er in der Vergangenheit den Löwenanteil der Waffenlieferungen. Er gehört der stärksten ethnischen Gruppe Afghanistans an, den Paschtunen, die rund 50 Prozent

„Pakistans“ abgestürzter Militärdiktator hat aufs falsche Pferd gesetzt“ der Bevölkerung ausmachen und in einer gewissen Rivalität zu den im Norden des Landes beheimateten Tadschiken stehen, denen Ahmad Schah Massud angehört.

Pakistan hatte in der Vergangenheit große Probleme mit dem Paschtunen-Irredentismus afghanischer Regierungen; denn in Pakistans Nordwesten leben fast noch mehr Paschtunen als in Afghanistan- Hikmatyar sollte für Islamabad sicherstellen, daß von einem künftigen freien

Afghanistan kein Sog mehr auf Pakistans Nordwest-Grenzprovinz ausgeht. Zia ul-Haq wollte beide Staaten in einer Art islamischer Einheit fest miteinander verbinden.

Nach dem Tod des pakistanischen „Priester-Präsidenten“ sah Hikmatyar seine Felle davon-schwimmen und wollte nun den anderen Mudschahedin-Führern zuvorkommen. Deshalb gingen seine Trupps in Afghanistans zweitgrößter Stadt Kandahar sowie in den Provinzstädten Spin, Boldak und Kunduz zum Großangriff über. Dieser wurde jedoch von den Regierungstruppen mit sowjetischer Hilfe zurückgeschlagen. Die Zivilbevölkerung hat unter diesen Kämpfen so gelitten, daß sie nunmehr die Regierungsseite fast vorzieht.

In den USA und sogar in Saudi-Arabien war man sich bereits seit längerem darüber im klaren, daß Pakistans abgestürzter Militärdiktator in Afghanistan auf das falsche Pferd gesetzt hatte. Sowohl in Washington als auch in Riad frohlockt man nun darüber, endlich mit den wirklich repräsentativen Widerstandsverbänden in direkten Kontakt treten und die Waffen gerechter verteilen zu können — ohne Einmischung des militärischen Geheimdienstes der Pakistaner.

Andererseits ist durch das in Pakistan entstandene Machtvakuum die Gier der kleinen Beamten noch größer geworden. Das bekommen die zahlreichen humanitären Organisationen zu spüren, die nur über Pakistan Hilfsgüter in das verwüstete Afghanistan einführen können. Auch Journalisten müssen jetzt höhere

Bestechungsgelder zahlen, wenn sie nicht von Grenzbeamten festgehalten werden wollen.

Die Sowjets haben ihre Drohungen gegen Pakistan verstärkt, wohl um sicherzustellen, daß die neue Führung in Islamabad die Mudschahedin-freundliche Haltung auch wirklich aufgibt.

Aus der schnellen Übernahme Afghanistans durch die Mudschahedin wird wohl vor dem Abzug der letzten sowjetischen Truppen am 15. Februar 1989 nichts werden. Zumindest die Nordhälfte wird auch dann noch unter indirekter Kontrolle Moskaus bleiben. Von jenseits der Grenze kommende Kampfflugzeuge können dort wirksam bombardieren und auf sowjetisches Gebiet zurückkehren.

Dramatisch wird allerdings die Auseinandersetzung um Kabul. Obwohl sich die Stützen des kommunistischen Regimes weiterhin untereinander befehden, sind die Sowjets offensichtlich nicht dazu bereit, die Marionettenregierung noch vor dem 15. Februar in den besser abgesicherten Norden Afghanistans zu verlegen.

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