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Vor einer ernsten Wahl

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Das westliche Verteidigungsbündnis, die NATO, steht vor einer schwierigen Entscheidung. Sie muß sich im Dezember für oder gegen neue atomare Mittelstreckenraketen aussprechen, die in Westeuropa stationiert würden und mit denen Ziele tief in der Sowjetunion bedroht werden könnten. In diesen Entscheidungsprozeß platzte der sowjetische

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Das westliche Verteidigungsbündnis, die NATO, steht vor einer schwierigen Entscheidung. Sie muß sich im Dezember für oder gegen neue atomare Mittelstreckenraketen aussprechen, die in Westeuropa stationiert würden und mit denen Ziele tief in der Sowjetunion bedroht werden könnten. In diesen Entscheidungsprozeß platzte der sowjetische

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Staatschef Breschnew mit seiner Ostberliner „Friedens- initiative“: Einseitig will Moskau Truppen und Material aus der DDR abziehen. Mit den beiden Ereignissen befassen sich hier der sowjetische Journalist Wladlen Kusnezow aus östlicher und aus westlicher Sicht der außenpolitische Ressortchef der Münchner „Süddeutschen Zeitung“, Dieter Schröder.

Bekanntlich erfordert die Politik viele Eigenschaften: eine staatsmännische Weisheit, ein Gefühl für Realismus und das Können, seine eigenen legitimen Interessen zu verteidigen und zugleich den legitimen Interessen der anderen Rechnung zu tragen. Und nicht zuletzt ist dabei auch Kühnheit notwendig.

Gerade das meinte Leonid Breschnew, als er in Berlin von einer wahren politischen Kühnheit sprach, die nicht im Bestreben nach Rivalität und gegenseitiger. Bekämpfung, sondern in der Fähigkeit besteht, die Politik des

Friedens und der guten Nachbarschaft ohne Schwankungen und Rücktritte zu betreiben.

Seinerzeit legte die bundesdeutsche Regierung Willy Brandt/Walter Scheel einen überdurchschnittlichen politischen Mut an den Tag, als sie sich endlich einverstanden erklärte, den Nachkriegsrealitäten und Grenzen in

Europa sowie den legitimen Interessen jener Rechnung zu tragen, die unter der faschistischen Aggression gelitten haben.

Und jetzt, an der Schwelle der achtziger Jahre steht Bonn erneut, wie zehn Jahre zuvor, vor einer verantwortungsvollen Wahl. Wird es genug Mut aufbringen, um sich dem Druck von außen zu widersetzen, den Plänen zur

Verwandlung der Bundesrepublik Deutschland in einen Startplatz für amerikanische Kem- und Raketenwaffen, die auf die UdSSR und ihre Verbündeten zielen? Oder wird es seine europäischen Nachbam herausfordem?

Nicht von ungefähr sprach Leonid Breschnew ganz besonders von der Bundesrepublik in der Reihe der an-

deren NATO-Teilnehmer. Die BRD besitzt genug Gewicht und Selbständigkeit, um in der Gemeinschaft der „gleichen Partner“, wie der NATO attestiert wird, dem nicht zuzustimmen, mit dem sich die Bonner Politiker, wie verlautet, schweren Herzens einverstanden erklären wollen. Wenn kein Wunsch danach besteht, warum setzen dann diejenigen, die selbst einen Druck von außen verspüren, die anderen unter Druck?

Einigen Kommentatoren ist es recht, die in Berlin vorgebrachte Aufforderung Leonid Breschnews an Bonn, die Vernunft an den Tag zu legen, als „Druck“, „Bedrohung“ oder sogar als „Ultimatum“ auszulegen. Nichts desgleichen. Die an Bonn gerichtete Aufforderung ist ein Appell an einen Partner im Entspannungsprozeß. An den Partner, mit dem vereinbart worden ist, daß niemand nach einer Änderung des Kräfteverhältnisses zu seinen

Gunsten und nach .einer militärischen Überlegenheit in Europa streben darf.

Wie verlautete, war man in Bonn gerade über diesen Punkt des gemeinsamen Dokuments, unter dem die Unterschriften von Leonid Breschnew und Helmut Schmidt stehen, sehr zufrieden. Jetzt ist es gerade an der Zeit,

daran zu erinnern, denn das Projekt zur Unterbringung der „eurostrategischen“ Waffen des Pentagon in der BRD hat zum Ziel, der NATO eine militärische Überlegenheit zu gewährleisten.

Es handelt sich nicht um eine „zusätzliche Aufrüstung“, wie man dies in der NATO und in der BRD auslegen möchte, sondern um eine Umrüstung, ich würde sogar sagen um Superaufrüstung, die die strategische gituationauf dem europäischen Kontinent grundlegend verändern und dazu zwingen würde, eine qualitativ neue Etappe des Wettrüstens einzuleiten.

Der Appell an Bonn unter solchen Bedingungen ist die Sorge um die Kontinuität und Weiterführung der Entspannungspolitik, um den Abbau der militärischen Konfrontation in Europa. Die Partner bei der Entspannung -

Moskau und Bonn können sich durchaus für solche halten - müssen einander nicht unbedingt nur Komplimente machen und nur das sagen, was angenehm zu hören ist. Die Partnerschaft setzt auch voraus, daß die Seiten ihre

Besorgnis über diese oder jene Handlung und Absicht zum Ausdruck bringen und vor einem falschen übereilten Schritt warnen können. Das hat Moskau jetzt auch getan.

Es hat sogar viel mehr getan als nur dies. Wie mir scheint, hat es auch jene ernste Entscheidung erleichtert, der sich jetzt die BRD und die anderen NATO-Länder gegenübersehen. Die Sowjetunion gab den Ländern Westeuropas kund, daß sowohl die Zahl der Startrampen für die Raketen mittlerer Reichweite als auch die Stärke der

Kernladungen etwas verringert werden.

Außerdem erklärte sich die Sowjetunion bereit, die Anzahl von Kernwaffenträgern mittlerer Reichweite, die in den westlichen Gebieten der Sowjetunion stationiert sind, auch weiter zu reduzieren, wenn die NATO

selbstverständlich auf zusätzliche Aufrüstung mit Kernwaffenträgern solcher Art verzichten wird.

Die Sowjetunion und ihre Verbündeten erklären sich auch damit einverstanden, die Stärke der sowjetischen Truppen in Mitteleuropa einseitig zu reduzieren.

Das ist eine Geste guten Willens. Eine Geste, die von der Sorge darum diktiert ist, die Wiener Verhandlungen über eine gegenseitige Reduzierung der Streitkräfte und Rüstungen in Mitteleuropa über den toten Punkt hinwegzubringen. Im Westen, darunter auch in der Bundesrepublik, spricht man schon seit einigen Jahren davon, daß man den Wiener Verhandlungen irgendeinen „neuen Impuls“ geben wolle.

Vorläufig gibt es aber von westlicher Seite keine Impulse. Und Moskau gibt nicht nur Impulse, sondern auch ein Beispiel für eine sachliche und praktische Einstellung zur Lösung des Problems.

Und hier wenden wir uns wiederum der politischen Kühnheit zu. Nicht jeder wird sich dazu entschließen, seine Streitkräfte einseitig zu reduzieren, während die andere Seite diese vergrößert. Das Pentagon steigerte in den

Jahren seine militärische Präsenz in Europa und beabsichtigt, neue große Posten moderner Waffen nach Europa zu verlegen.

Eine wahre politische Kühnheit besteht heutzutage nicht darin, am Rande eines Abgrundes zu balancieren, von dem man leicht abstürzen und alle mit sich reißen kann, mit denen man durch ein Seil gebunden ist.

Sie besteht auch nicht in der Demonstration der Flagge oder der Grausamkeit, nicht in der Kampflust, die es im Zeitalter der Kern- und Raketenwaffen überhaupt nicht geben darf. Nicht in der Verkündung einer „Strategie der Abschreckung“, mit der Schaffung von „Kräften zur Einmischung“ und „Eingreiftruppen“ untermauert. Eine wahre politische Kühnheit besteht jetzt im entschiedenen und energischen Suchen nach neuen Wegen zur

Festigung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit.

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