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Vor einer Renaissance der christlichen Demokratie?

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Wer in Paris gezwungen ist, sich im Wartezimmer eines Arztes die Zeit zu vertreiben, der wird in der Regel nach einem Stoß zerschlissener Zeitschriften greifen. Mit Sicherheit findet er dann einige Exemplare der „Jours de France“. Es handelt sich dabei um eine Publikation, die für alles wirbt, was die moderne Frau benötigt. Der Leser findet die Modemodelle der Saison und eine ausführliche Klatschspalte mit den Porträts all jener, die sich zur internationalen Gesellschaft zählen oder gerne zu ihr gezählt werden möchten.

Nur den wenigsten allerdings ist bekannt, daß Dassault, der bedeutendste französische Flugzeugkonstrukteur, Eigentümer dieses Blattes ist. Als Direktor des Magazins zeichnet lediglich der intime Berater dieses Industriellen, General de Benouville, der im Palais Bourbon den 12. Pariser Gemeindebezirk vertritt. Bisher gehörten sowohl der Chef als auch sein Berater der gaullistischen Partei an, ohne sich jedoch sonderlich für die frühere UDR -jetzt RPR - einzusetzen.

Zur allgemeinen großen Verwunderung wurde nun gegen Ende Mai bekannt, daß „Jours de France“ nicht nur die neuesten Badekostüme anpreist, sondern auch — man höre und staune - die christliche Demokratie. Der General und Abgeordnete Benouville ist im Sinne eines in der letzten Zeit fühlbaren Trends dazu übergegangen, eine Partei zu gründen, die den ehrwürdigen Namen „Französische Christliche Demokratie“ erhielt. In der Maiausgabe veröffentlichte er erste Hinweise auf sein Programm. Anstelle eines Gesellschaftsmodells präsentierte Benouville dabei eine Reihe von Grundsätzen, die eigentlich von jeder französischen Partei in Anspruch genommen werden könnten. Sogar der in christdemokratischen Kreisen umstrittene Famüienlohn - die Frau, die sich nur dem Hause und dem Kinde widmet, soll monatlich 50 Prozentides staatlich fixierten Mini- mallohnes erhalten - findet sich in diesem Programm wieder.

Virulenter Antikommunismus zeichnet die neue Partei aus. Als Alternative zu den Gefahren des Kollektivismus wird jene persönliche Freiheit gepriesen, die einer pluralistischen Demokratie entspringt. Die Strukturen der Gesellschaft sollen im Geiste päpstlicher Enzykliken geordnet werden.

Immerhin gibt Benouvilles Initiative Anlaß, nach einer gesellschafts- und staatspolitischen Bewegung zu forschen, die einige Spuren im politischen Denken der französischen Nation hinterlassen hat. Bereits während der Großen Revolution von 1789 tauchte der Begriff „Christliche Demokratie“ auf. Damals war die Zahl seiner Anhänger eher gering, doch war man in der Folge bemüht, junge Katholiken aufzufordem, jenseits der durch die Revolution entwickelten Strukturen nach neuen Horizonten Ausschau zu halten und die positiven Seiten des gewaltigen Umsturzes mit den eigenen gesellschaftlichen und politischen Grundsätzen zu verbinden.

Unter den christdemokratischen Denkern, die seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts am Werke waren, findet der Historiker einige brillante Publizisten und Redner, die es verstanden haben, die Entwicklung der Bewegung positiv zu beeinflussen. Vom Philosophen Lamennais bis zum Ministerpräsidenten der IV. Republik, Bi- dault, läßt sich eine Reihe von christdemokratischen Thesen nachweisen, die sich durch die Kühnheit der verkündeten Konzepte auszeichnet. Marc Sangnier(1873 bis 1950) kann als Vater der modernen christlichen Demokratie sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene angesehen werden. Er gilt als unermüdlicher Vorkämpfer der modernen Sozialgesetzgebung. Gemeinsam mit dem italienischen Priesterpolitiker Don Sturzo legte er die Grundlagen für internationale Aktivitäten von Gruppen, die nicht im starren Traditionalsimus verharren wollten.

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Das Schicksal Marc Sangniers war es, daß seine Bewegung dem Vatikan nicht genehm war. Marc Sangnier hatte eine linkslastige Zeitschrift gegründet, die unter dem Namen „Sil- lon“ („Die Furche“) eine ganze Generation junger Katholiken beeinflußte. Darüber hinaus rief er eine politische Bewegung ins Leben, die im ganzen Land Fuß faßte. Er veranstaltete Kongresse, bei denen sich bis zu 5000 Personen einfanden. Die römischen Zentralstellen befürchteten einerseits eine zu starke Vermischung von geistlichen mit weltlichen Dingen, anderseits das Bekenntnis zu einer Art von Demokratie, die damals von Rom keineswegs gutgeheißen wurde. Der „Sil- lon“ wurde im August des Jahres 1910 von Papst Pius X. verboten, der zugleich den Katholiken das Recht absprach, die Kirche parteipolitisch fest-

zulegen. Mit blutendem Herzen, aber folgsam, nahm der Gründer des „Sil- lon“ die päpstliche Entscheidung an. Aber Marc Sangniers Wirken trug Früchte. So gelang es der nach 1945 stärksten Partei Frankreichs - der Volksrepublikanischen Partei MRP -, den Staat in letzter Minute vor einer kommunisitschen Sturmflut zu retten.

Die 1943 gegründete Volksrepublikanische Partei vermochte, nachdem die staatstragenden Organisationen der III. Republik vollkommen versagt hatten (1940), sämtliche Wähler von der linken Mitte bis zur konservativen Rechten in sich zu vereinen. Obwohl sich das MRP niemals als „christliche“ Partei deklarierte, konnten die Volksrepublikaner doch behaupten, die direkten Erben der Lamennais und Marc Sangnier zu sein. Ihr Einfluß auf die Schwesterparteien in Europa zu Beginn der fünfziger Jahre war außerordentlich groß. Obwohl bisher noch immer keine objektive geschichtliche Darstellung und damit auch keine Würdigung der Aktivitäten des MRP existiert, werden die Grundsätze dieser Gruppe auch heute noch von den französischen Regierungsparteien wenigstens teilweise übernommen.

Die Volksrepublikaner scheiterten aus zwei Gründen: Zwischen dem Befreier General de Gaulle und dem MRP entstand sehr schnell eine nicht mehr zu überbrückende Kluft, die sich Monat für Monat, Jahr für Jahr vergrößerte. Zehntausende von Wählern, die dem MRP ihre Stimme gegeben hatten, um die antikommunistische Front zu stärken, wechselten zur gaullistischen Sammelbewegung

RPF hinüber. Trotzdem muß es auch heute noch verwundern, daß der jetzige Chef der „Sozialen Demokraten“, Lecanuet, im Jahre 1965 seine Partei kurzerhand auflöste - ein diesbezüglicher Entschluß wurde auf keinem Kongreß gefaßt - und eine Zentrumspartei gründete, in der auch Anhänger liberaler Programme ihren Platz finden sollten. Seine Rechnung ist allerdings nicht aufgegangen. Obwohl die jetzigen „Sozialen Demokraten“ des öfteren darauf hin weisen, daß sie christliche Demokraten seien, überzeugt dieses Bekenntnis die wenigsten.

Einige der früheren volksrepublikanischen Würdenträger, wie Maurice Schuman, versuchten, innerhalb der gaullistischen Partei einen christdemokratischen Flügel aufzubauen. Doch sollte es lediglich bei einigen ersten, tastenden Versuchen bleiben.

Kann also eine christdemokratische Partei unter dem Regime Giscard d’Estaings neu erstehen? Viele Kenner der französischen Innenpolitik halten die Bildung einer christdemokratischen Partei in der V. Republik für vollkommen undenkbar. Die großen katholischen Laienorganisationen bekennen sich mit überwiegender Mehrheit zur Sozialistischen Partei Mitterrands oder zur Sozialrevolutionären Gruppe PSU. So darf also der Gründung einer „Christlichen Französischen Demokratie“ durch General Benouville, unterstützt durch die Millionen des Flugzeugindustriellen Dassault, keine allzugroße Bedeutung beigemessen werden. Trotzdem ist, was die christlichen Demokraten Frankreichs während zweier Jahrhunderte ausgesät haben, aufgegangen, und so manche Idee, die von dieser Seite kam, findet sich in dem kürzlich erschienenen Buch des Staatspräsidenten „die Französische Demokratie“.

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