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Vor Wendepunkt in der Europapolitik?

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Am 25. März werden die römischen Verträge zur Schaffung des Gemeinsamen Marktes 25 Jahre alt: für Paris ein Anlaß, den europäischen Einigungsprozeß neu anzukurbeln.

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Am 25. März werden die römischen Verträge zur Schaffung des Gemeinsamen Marktes 25 Jahre alt: für Paris ein Anlaß, den europäischen Einigungsprozeß neu anzukurbeln.

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In einem Gespräch mit unserem Pariser Mitarbeiter bezeichnete der französische Europaminister Andre Chandernagor die bisherige Bilanz als positiv und ermutigend, ohne deswegen die augenblickliche Krise der Europäischen Gemeinschaft (EG) zu leugnen. Die EG ist immerhin zu der wahrscheinlich größten Wirtschaftsmacht der Welt geworden. Ohne die Mechanismen des römischen Vertrages wäre dies kaum denkbar gewesen.

Für die nächste Zukunft fordert Frankreich noch mehr Gemeinsamkeit, vor allem im industriellen und technologischen Bereich. Nur dann besitze Europa eine Chance, sich in der Spitzentechnik gegenüber den USA und Japan zu behaupten.

Politisch richtet sich der Appell nach mehr Gemeinsamkeit vor allem an Großbritannien und an den Beitrittskandidaten Spanien. Nach französischer Ansicht haben beide noch nicht erkannt, daß sie sich den von den Gründern der Gemeinschaft vorgesehenen Regeln zu unterwerfen haben und nicht den Versuch unternehmen dürfen, sie zu ändern, daß heißt sie aufzulockern.

Frankreich will sich nicht so, wie es den Briten vorschwebt, mit einer Freihandelszone und einer ergänzenden politischen Konsultation begnügen: Paris will die wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen für die in der europäischen Gründerperiode bereits angestrebten Vereinigten Staaten Europas schaffen.

Inzwischen erwägt Paris für die Institutionen allerdings keine umwälzenden initiativen. Sie sollen zuerst einmal vor allem wirkungsvoller arbeiten.

Premierminister Pierre Mauroy empfahl soeben der europäischen Kommission, stärker die Rolle eines Motors zu spielen und sich auch politisch bemerkbar zu machen. Dem Parlament möchte man zwar keine neuen Rechte geben, es jedoch mehr an der Ausarbeitung des Budgets und der wirtschaftspolitischen Richtlinien beteiligen.

Innerhalb des europäischen Ministerrats soll schließlich die Abstimmung häufiger an die Stelle des mühevoll ausgehandelten Konsensus treten, man sieht im nationalen Vetorecht also nur noch eine Ausnahme. Dadurch können langwierige Diskussionen vermieden werden. Ein Anfang wurde in diesem Sinne schon gemacht.

Die deutsch-französische Zusammenarbeit bildet weiterhin Fundament und Mittelpunkt der französischen Europapolitik. Die Ende Februar nach dem letzten halbjährlichen deutsch-französischen Regierungstreffen veröffentlichte Erklärung wollte dies in klarer Form betonen und bestätigen.

Der unmittelbar darauf folgende Besuch des französischen Präsidenten in Rom diente nicht zuletzt der Eingliederung Italiens in eine solide Einheitsfront: Sie scheint erforderlich, um Großbritannien zu veranlassen, auf die geplante Blockierung der Europäischen Gemeinschaft zu verzichten und sich endlich mit einem vernünftigen Finanzkompromiß abzufinden.

Erhebliche Bedeutung mißt Frankreich schließlich der Sicherheitspolitik bei. Zum ersten Mal wurde beim letzten deutschfranzösischen Regierungstreffen die Sicherheit in die deutsch-französische Kooperation einbezogen. Der Anstoß dazu ging von Frankreich aus.

Paris hält es in der jetzigen Lage für wenig sinnvoll dem ursprünglichen Vorschlag des deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher gemäß über Sicherheitsfragen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft zu sprechen. Dort sind nämlich einige Partnerstaaten aus verschiedenen Gründen nicht bereit, sich auf dieses Gelände zu begeben.

Nach Äußerungen Chanderna-gors verbindet sich im deutschfranzösischen Rahmen die Sicherheit mit der gesamten Verteidigungspolitik. Präsident Fran-cois Mitterrand und Bundeskanzler Helmut Schmidt sollen für die demnächst anlaufenden Beratungen persönlich die Impulse geben. Keine Frage ist tabu, weder die Beseitigung der von der Bundesrepublik als diskriminierend empfundenen Bestimmungen des Vertrags der Westeuropäischen Union, noch die Rolle des französischen Atompotentials innerhalb des europäisch-atlantischen Verteidigungssystems.

Frankreich ist sich durchaus der Tatsache bewußt, daß die von ihm selbst dem deutschen Nachbarn angebotene Schicksalsgemeinschaft nicht glaubwürdig ist, wenn es sein Atompotential nur rational-egoistisch einsetzen will und nicht auch zum Schutze des deutschen Partners. Diese geistig-strategische Umstellung ist im Gange.

Minister Chandernagor erklärte mit aller Deutlichkeit, daß eine Europäische Gemeinschaft auf die Dauer nicht widerstandsfähig ist, wenn sie den lebenswichtigen Verteidigungskomplex ausklammert. Natürlich handelt es sich hierbei um ein langfristiges Unterfangen, aber auch um einen Wendepunkt der Europapolitik, sofern Frankreich jenseits des Rheins das erwartete Echo findet.

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