6809988-1972_28_09.jpg
Digital In Arbeit

Vorabend einer Revolution?

19451960198020002020

Robert Raulet ist einer der 40.000 Geistlichen Frankreichs, die immer noch den Mut haben, in der Zeit eines passiven Atheismus die Evangelien zu verkünden. Als Sohn einer Proletarierfamilie lebt der heute Sechzigjährige in einem der unzähligen Arbeitervororte von Paris, in denen sich klassenbewußte Frauen und Männer mit dem „Streusand“ eines Unter-preletariats — zusammengesetzt aus Algeriern, Portugiesen und Senegalesen — vermischen. Pere Raulet begnügt sich aber nicht nur mit dem ihm übertragenen Amt. Er sucht die Konturen einer neuen Kirche und kontestiert die überlieferten Strukturen. Als Mitbegründer der revolutionären Priestergruppe „Austausch und Dialog“ begeistert er 900 bis 1200 Seelsorger, die in Privat-vvohnungen die Messe zelebrieren, im Halbdunkel Broschüren und Appelle zirkulieren lassen und jene Mitbrüder moralisch unterstützen, die als Verheiratete — es gibt deren 2000 in Paris — am Rand der Kirche und der Gesellschaft leben. Pere Raulet stellt sich und seinen Amtskollegen Fragen, die in der Tiefe des katholischen Raums widerhallen.

19451960198020002020

Robert Raulet ist einer der 40.000 Geistlichen Frankreichs, die immer noch den Mut haben, in der Zeit eines passiven Atheismus die Evangelien zu verkünden. Als Sohn einer Proletarierfamilie lebt der heute Sechzigjährige in einem der unzähligen Arbeitervororte von Paris, in denen sich klassenbewußte Frauen und Männer mit dem „Streusand“ eines Unter-preletariats — zusammengesetzt aus Algeriern, Portugiesen und Senegalesen — vermischen. Pere Raulet begnügt sich aber nicht nur mit dem ihm übertragenen Amt. Er sucht die Konturen einer neuen Kirche und kontestiert die überlieferten Strukturen. Als Mitbegründer der revolutionären Priestergruppe „Austausch und Dialog“ begeistert er 900 bis 1200 Seelsorger, die in Privat-vvohnungen die Messe zelebrieren, im Halbdunkel Broschüren und Appelle zirkulieren lassen und jene Mitbrüder moralisch unterstützen, die als Verheiratete — es gibt deren 2000 in Paris — am Rand der Kirche und der Gesellschaft leben. Pere Raulet stellt sich und seinen Amtskollegen Fragen, die in der Tiefe des katholischen Raums widerhallen.

Werbung
Werbung
Werbung

Seitdem eine schwere theologische Krise in den fünfziger Jahren über die älteste Tochter der Weltkirche hereingebrochen ist, verstummten wohl zeitweise die Polemiken und Auseinandersetzungen, um in diesen Monaten mit Heftigkeit an allen Ecken und Enden aufzubrechen.

Der objektive Beobachter gewinnt den Eindruck, daß diese ehrwürdige Einrichtung von einem Pfingststurm erschüttert wird. Manches Morsche zerbricht, Blüten entfalten sich am falschen Platz und dennoch werden die Geister befruchtet und ein Dialog auf weiter Front entfacht.

Frankreichs Kirche zeigt zur Zeit viele Gesichter. Noch existieren die Nobelpfarreien des 16. Pariser Gemeindebezirks, in denen die Bourgeoisie ihre überlieferten Feste feiert. Daneben wirken in den neuen Siedlungen der Großstädte „pastorale Einheiten“, also Gruppen von spezialisierten Priestern, welche die bisherige Form der Pastorale in der Pfarrgemeinschaft ablehnen. Sie suchen die Gläubigen wie die Ungläubigen am Arbeitsort zu finden, bilden ver-tikal-formierte Zentren mit gleicher soziologischer Zusammensetzung. Schließlich sind die Arbeiterpriester ein Ferment geworden, ein wichtiger Faktor der Seelsorge abseits der früheren Sensationen. Die klassische Pfarrei kämpft in Rückzugsgefechten um ihren Bestand und wird — abgesehen von traditionsgebundenen Gläubigen — von der Jugend und ihren Beratern nicht ernstgenommen. Aus den ruralen Überlieferungen stammend, hat diese Form kaum mehr jene Wirksamkeit wie noch in den Jahren 1945 bis 1950.

Einfluß des Protestantismus

Als besonderes Phänomen darf vemerkt werden, daß die Generation der 20- bis 40jährigen in bedeutendem Ausmaß um religiöse Begriffe ringt und in der konservativen Form kein Auslangen findet. Diese Abkehr von „antiquierten“ Einrichtungen ist mit dem Wachsen von Basisorganisationen und Zellen verbunden, die in allen Städten auftauchen.

Selbst die kirchlichen Behörden können nicht einmal annähernd angeben, wo und wann sich solche informelle Gruppen bilden, deren Charakteristik in der Spontaneität liegt. Die Tendenz solcher Zirkel ist verschieden. Einzelne befassen sich mit den Zielen des Sozialismus und rutschen in den Sog maoistischer Heilslehren ab. Andere studieren die Erkenntnisse der modernen Theologie im klassischen Sinn. Die Einflüsse aus protestantischem Gedankengut sind kaum zu übersehen. Lubac und Congar werden neben Karl Bath gestellt, Küng neben Bonhoeffer und die Schriften Bultmanns werden eifrig gelesen.

Die Hierarchie betrachtet diese Auffächerung mit einem lachenden und einem weinendn Auge. Eine gewisse Anarchisierung des Glaubens dämmert als letzte Gefahr am Horizont auf. Allerdings darf der Ernst dieser Studien und Diskussionen auf keinen Fall unterschätzt werden. So entdeckten wir kürzlich zwei solcher Gruppen in Paris, die unter dem gleichen Namen „Auferstehung“ firmieren. Die eine schließt sich dem

Versuch an, der seinerzeit, um die Zeitschrift „La Quinzaine“ gesammelt, eine Versöhnung mit dem Marxismus anstrebte. Umstrittene Priester, wie der Psychoanalytiker Orai-son oder der angriffslustige Cardon-nel inspirieren 50 bis 80 Jugendliche, die vier Jahre lang die Konsequenzen der Auferstehung bedachten. Einzelne Ergebnisse dieser Aussprachen liegen an den Grenzen dessen, was die klar ausgedrückte Lehrmeinung der Kirche gestattet. Manchmal wurde die Orthodoxie bewußt verlassen und vages Neuland betreten.

Im Schatten der Basilika „Sacre Coeur“ etablierte sich ein anderer Kreis, der, auf dem Boden der klassischen Theologie stehend, die Werke Hans Urs von Balthasars, Joseph Ratzingers und Jean Danielous durchackert. Studenten und Jungakademiker opfern dort viele Abende, um dieser spröden Materie näherzutreten. Bemerkenswert ist, daß diesen Aussprachen evangelische Christen, Pastoren sowie Ungläubige beiwohnen und aktiv teilnehmen.

Die beiden Gruppen „Auferstehung“ wurden nur zur Illustrierung zitiert. Es mangelt an Systematik. Erst vor einigen Wochen begannen größere Bewegungen, wie das „Neue Leben“ oder die „Schweigenden der Kirche“, diese Gruppen zu rezensieren, Kontakte aufzunehmen und die Bilanz der Studien in beachtenswerten Monographien zu sammeln.

Wer sich mit dem französischen Katholizismus intensiver beschäftigt, wird von dem überall herrschenden Willen überrascht, revolutionäre, gesellschaftspolitische Modelle zu konstruieren. Die „Avantgarde“ der Kirche, die katholische Arbeiterbewegung ACO, die spezialisierten Organisationen der Studenten und der Landjugend machen sich ständig Gedanken über die Beziehungen zwischen Staat und Kirche, dem Individuum und allen jenen Institutionen, seien es Gewerkschaften oder Berufsstände, die eine Harmonisierung des einzelnen mit den kollektiven Interessen anstreben. Vielleicht wird etwas zuviel politisiert, werden die eigentlichen Anliegen der Kirche zuwenig respektiert.

Diese Feststellung läßt sich aus zwei, nur aus der neuesten französischen Geschichte verständlichen Umständen ableiten: der Algerienkrieg und der Mai 1968. An dem fürchterlichen nordafrikanischen Konflikt mußten mehr als 500.000 junge Männer teilnehmen, die oft zu Handlungen gezwungen waren, die mit dem christlichen Gewissen nicht in Einklang zu bringen sind. Diese Altersklasse ist heute in das soziale und wirtschaftliche Leben vorgestoßen. Die Erinnerungen sind noch keineswegs bewältigt. Das Problem der Folter, des Zwangs, den Freiheitskampf einer Nation der Dritten Welt zu unterdrücken, bewog den aktivsten Teil dieser Generation, Fragen zu stellen, die bisher ungenügend beantwortet sind. Man mag mit Klerikern oder militanten Laien der katholischen Aktion sprechen, über kurz oder lang wird das algerische Abenteuer erwähnt und energisch Position ergriffen.

Obwohl der Mai 1968 die bestehende liberale kapitalistische Ordnung nicht beseitigen konnte, leitete er zahlreiche Reformen ein und eröffnete Perspektiven, die nicht nur in der Arbeiterklasse bis auf unsere

Tage Hoffnungen wecken, nach der Studentenrevolte im Quartier Latin und der gewaltigen Streikwelle einer gründlichen Revolution von Staat und Gesellschaft zu stehen. Soll diese Erneuerung durch evolu-tive Methoden erfolgen? Oder ist es erforderlich, ein zweites 1789 herbeizuwünschen? Nachdem die kommunistische Partei selbst — es mag para-doxal klingen — die etablierte Ordnung stützt, suchen die jungen Katholiken Auswege und flüchten sich aus dem bisherigen Getto zu jenen Kreisen, die das irdische Paradies von morgen versprechen. Wird es gelingen, diese unzähligen Sturzbäche in einem Flußbett zu sammeln, das Frankreichs Kirche einen neuen Frühling, ein blühendes Pfingsten eröffnet? Oder werden Dämme eingerissen, die das Wertvolle, das Wichtige, ja das Essentielle endgültig zerstören? Voilä la question!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung