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Vormarsdi der Eisenfresser

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Breschnjews Bild flimmerte täglich über Millionen Kinoleinwände — in einem Rückblick auf seinen Kuba-Besuch vor einem Jahr. Der Generalsekretär beglückwünschte Bestarbeiter im Ural und ausländische Parteiführer — fernschriftlich. Einer Parteikonferenz der Armee lieji er durch Marschall Gretschko einen „bolschewistischen Gruß“ übermitteln. Nur er selbst blieb unsichtbar — von jenem 24. Dezember 1974 an, als er an einer Sitzung des Obersten Sowjets der Russischen Unionsrepublik (RSFSR) teilnahm, bis zum 13. Februar 1975, als er den britischen Premierminister Wilson plötzlich und unerwartet im Kreml begrüßte und sofort die Verhandlungen aufnahm.

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Breschnjews Bild flimmerte täglich über Millionen Kinoleinwände — in einem Rückblick auf seinen Kuba-Besuch vor einem Jahr. Der Generalsekretär beglückwünschte Bestarbeiter im Ural und ausländische Parteiführer — fernschriftlich. Einer Parteikonferenz der Armee lieji er durch Marschall Gretschko einen „bolschewistischen Gruß“ übermitteln. Nur er selbst blieb unsichtbar — von jenem 24. Dezember 1974 an, als er an einer Sitzung des Obersten Sowjets der Russischen Unionsrepublik (RSFSR) teilnahm, bis zum 13. Februar 1975, als er den britischen Premierminister Wilson plötzlich und unerwartet im Kreml begrüßte und sofort die Verhandlungen aufnahm.

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Fest steht, daß Breschnjew tatsächlich krank war und sich zumindest um die Jahreswende in einem Armeesanatordum unweit Moskaus aufgehalten hat. Und eindeutig haben sich in den letzten Wochen die Anzeichen für eine nachlassende Führungskraft Breschnjews gemehrt.

Anfang November mußte Breschnjew sich in dem Funktionärsorgan „Kommunist“ an das Prinzip der „kollektiven Führung“ erinnern lassen, das „Rückfälle in voluntari- stisches und subjektivistisches Verhalten bei der Lösung politischer und wirtschaftlicher Aufgaben“ ausschließe. Über ähnliche Anschuldigungen war im Oktober 1964 Nikita Chruschtschow von seinen Mitregenten im Parteipräsidium — darunter auch Breschnjew — gestürzt worden.

Mitte Nomember, knapp zwei Wochen vor dem sowjetisch-amerikanischen Gipfeltreffen in Wladiwostok, schrieb Generalstabschef Kulikow in der „Prawda“, die Partei gebe zwar die Richtlinien der Politik, der Generalstab aber analysiere und beurteile die gegebene militärpolitische Lage und bestimme die Tendenzen der Waffenentwicklung sowie die Art ihrer Anwendung — ein deutlicher Hinweis auf ein Mit- spräfflerecht der Armee bei militärischen Abmachungen mit den Vereinigten Staaten.

Anfang Dezember deutete die Ameezedtung „Roter Stern“ ihre Unzufriedenheit mit einigen Konzessionen Breschnjews in Wladiwostok an. Es waren auch die prestigebewußten Sowjetmarschälle, die Breschnjews Reise nach Kairo stoppten, als deutlich wurde, daß Präsident Sadat nicht auf die sowjetischen Bedingungen für die Wiederaufnahme der Waffenlieferungen an Ägypten ein gehen wollte: die Rüdeberufung der 15.000 sowjetischen Militärberater an den Nil. Sie hatten Ägypten 1972 verlassen müssen, nachdem der amerikanische Geheimdienst CIA eine raffiniert eingefädelte Sowjetverschwörung zum Sturz Sadats aufgedeckt hatte.

Breschnjew-Gegner dm Politbüro durchkreuzten auch ein Kernstück der Koexistenz-Strategie des Parted- chefs: den Handel Auswanderungserleichterungen für Sowjetjuden gegen amerikanische Kredite für die kurzatmige Sowjetwirtschaft.

Das Zentralkomitee revidierte Mitte Dezember den verbraucher- freundlichen Wirtschaftskurs und beschloß für 1975 höhere Zuwachsraten für die Schwer- und Rüstungsindustrie. Kurz darauf kündigte Moskau auch formell das im Oktober 1972 ausgehandelte sowjetisch-amerikanische Handelsabkommen und verfügte gleichzeitig einen De-facto- Auswanderungsstopp für Sowjetjuden. Seitdem geht statt der erhofften Dollar-Milliarden eine Papierflut mit Aufrufen zur vorfristigen Planerfüllung über die Köpfe der 250 Millionen Sowjetbürger nieder.

Mit solchen Aktionen deutet sich, nicht zum erstenmal, seitdem Breschnjew an die Spitze des Politbüros trat, ein Konflikt zwischen dem Generalsekretär und der im Politbüro verkörperten politischen Führung der Sowjetunion an. Chruschtschow hatte sich allen Versuchen, ihn an die Kette der kollektiven Führung zu legen, dadurch widersetzt, daß er mehrfach mit Erfolg an das Zentralkomitee appellierte, wenn er im Politbüro — damals Parteipräsidium — überstimmt worden war.

Auch Breschnjew mußte der Ge danke unbehaglich sein, bei Meinungsverschiedenheiten im Politbüro jederzeit durch ein Votum des Zentralkomitees ausgesohaltet werden zu können. Als Generalsekretär mit einem starken Parteisekretariat im Rücken konnte er dagegen hoffen, vom Zentralkomitee unabhängig genug zu werden, um eine ihm unerwünschte politische Willensfoildung jederzeit zu verhindern.

„Kollektive Führung“

Bereits im Sommer 1966 mußten Breschnjews Gegner in der Parteispitze den Generalsekretär an den Vorrang des Politbüros — also der politischen Führung — vor dem Sekretariat des Zentralkomitees erinnern. Die „Prawda“ schrieb: „Der Sekretär des Parteikomitees ist kein Vorgesetzter. Er hat nicht das Recht, zu kommandieren. Er ist nur der Älteste in dem von den Kommunisten gewählten Organ der kollektiven Führung. Bei ihm liegt die größte Verantwortung. Aber bei der Beschlußfassung hat er genauso viele Rechte wie auch die übrigen Mitglieder des Parteikomitees.“

Die kollektive Führung sei dort am stärksten, wo die Achtung vor der Autorität nicht die von der Vernunft gezogenen Grenzen überschreite und der Parteisekretär über den entsprechenden Takt, Zuvorkommenheit und Selbstkritik verfüge, um den kollektiven Meinungsaustausch nicht zu behindern.

Das war eine kaum verhüllte Warnung vor einem neuen Alleinherr scher. Ähnlich hatte Lenin in seinem politischen Testament die Partei aufgefordert, einen weniger schroffen, weniger launischen, geduldigeren, höflicheren und loyaleren Genossen als Stalm zum Generalsekretär zu wählen. Jetzt war die Reihe an Breschnjew. Und es war bezeichnend für den neuen Führungsstil, wie Breschnjew den Versuch meisterte, ihn in die Pflicht der kollektiven Verantwortung zu nehmen.

Zu seinem 60. Geburtstag im Dezember 1966 ließ er sich von seinen Getreuen in der gleichen „Prawda“ alle jene Eigenschaften bescheinigen, durch die sich auch Stalin in der Parteilegende ausgezeichnet hatte: Bescheidenheit und Güte, Sachlichkeit und Strenge, ideologische Prinzipienfestigkeit und gedankliche Tiefe — ganz besonders aber „feinfühligen und rücksichtsvollen Umgang mit den Kadern“.

Im Frühjahr 1969 verwies die Zeitschrift „Parteileben“ auf die Parteistatuten, in denen „erweiterte“ Sit zungen der obersten Parteiorgane nicht vorgesehen sind. Auf einer solchen „erweiterten“ Sitzung des Politbüros hatten die Marschälle, die gar nicht stimmberechtigt waren, gegen den Widerspruch der Kossy- gin-Suslow-Gruppe den Ausschlag für den Beschluß gegeben, in der Tschechoslowakei zu intervenieren. Das Zentralkomitee durfte nur nachträglich zustimmen — im Oktober.

Jetzt forderte „Parteileben“ unter Berufung auf Lenin „volle Macht für das Zentralkomitee“, nicht nur zu beraten und zu diskutieren, sondern das „Orchester tatsächlich zu dirigieren“. Gleichzeitig wurde Breschnjew — natürlich nicht namentlich — wegen seiner „übertriebenen Selbsteinscbätzung“ gerügt. Nur der Parteitag habe das Recht, die Parteilinie in Fragen der Innen- und Außenpolitik zu beschließen oder Programm und Parteistatuten abzuändern.

Auf dem 24. Parteitag im April 1971 verdrängte Beschnjew endgültig Kossygin von dem zweiten auf den dritten Rang der Kremlhierar- chie. Der „Kommunist“ schrieb: „Die kollektive Führung war nie Selbstzweck für unsere Partei… Wenn sie um ihrer selbst willen gesucht wird, führt sie zur Verwischung der persönlichen Verantwortung und behindert die sachliche Lösung bestimmter Fragen.“

Im Sommer 1972 verstärkte Breschnjew abermals seinen Griff nach der Alleinherrschaft im Kreml. Viermal warnte die Moskauer „Iswestija“ des Regierungschefs Kos- sygin vor den Machtambitionen „eines einzelnen, der sich über das Kollektiv erhebt“.

Im Jahr darauf kritisierte der Parteiideologe und Abgrenzungsstratege Suslow in einer Rede vor 2000 Funktionären den Versuch kommunistischer Führer der Vergangenheit, aus Opportunismus mit den „Trägern“ der bürgerlichen Ideologie „friedlich zu koexistieren“ — eine mehr als deutliche Anspielung auf Breschnjews geräuschvolle Auftritte in Bonn und im kalifornischen San Clemente.

Die stärksten Zweifel an Dauer und Tiefe des Breschnjewschen Ko existenzkurses kamen jedoch von seiten des Militärs. Verteidigungsminister Marschall Gretschko rief gleich nach der Rückkehr Breschnjews aus den Vereinigten Staaten zu „ständiger Wachsamkeit und Kampfbereitschaft“ auf.

Dreimal warnten Breschnjews

Gegner im Politbüro den Generalsekretär im Sommer und Herbst 1973, nicht dem Beispiel Chruschtschows zu folgen und den Weg der Alleinherrschaft zu beschreiten, um seine Linie gegen den Widerstand der Kremlöligarchen durchzusetzen. In zwei großen Reden, in Sofia und in Taschkent, trat Breschnjew den Rückzug an.

Vergeblich suchte der Generalsekretär, sich seiner schärfsten Kritiker zu entledigen. Der Sturz des Ukrainers Schelest und des Russen Woronow, die Partedsäuberungen in Leningrad, Georgien und in Aserbaidschan änderten freilich nichts an dem für Breschnjew ungünstigen Kräfteverhältnis im Politbüro. Mit Marschall Gretschko und dem Geheimpolizeichef Andropow mußte er zudem zwei unbequeme Kritiker und Warner in den innersten Kreis der Kremliführung aufnehmen.

Außerdem gab es Ärger mit Kossygin, der für die Wirtschaft, seit jeher die Achillesferse des Sowjetsystems, verantwortlich zeichnet. Zwar konnte Breschnjew in seinem Rechenschaftsbericht vor dem Zentralkomitee Ende Dezember 1973 auf eine Rekordernte von 222,5 Millionen Tonnen verweisen. Auch lag die industrielle Zuwachsrate mit 7,3 Prozent erfreulich hoch über den eingeplanten 5,8 Prozent.

Aber auch dem größten Optimisten konnte der Preis nicht verborgen bleiben, mit dem dieses Ergebnis erzielt wurde: einem Mdllionenheer „freiwilliger“ Erntehelfer aus den Betrieben, einer kafkaeske Ausmaße annehmenden Schundproduktion (allein 80 Millionen Paar unverkäuflicher Schuhe!) sowie einer Lawine unvollendeter Industriebauten — sogenannter „Investruinen“ —, deren Wert in einigen Schlüsselindustrien bereits die Summe der geplanten Neuinvestitionen übersteigt.

Vorrang des Zentralkomitees

Breschnjews Rede vor dem Zentralkomitee geriet denn auch zu einer Strafpredigt an die Wirtschaftsbürokratie unter Kossygin. Als Höhepunkt servierte dier Generalsekretär eine „Ref orm“ der Landwirtschaft — die Zusammenlegung der genossenschaftlich organisierten Kolchosen mit den Staatsgütern (Sowchosen) —, die an eines der gewagtesten Reformprojekte Chruschtschows erinnerte: die Schaffung von gigantiischen Agrostädten.

Prompt berief sich der Moskauer „Kommunist“ ein Jahr darauf auf Lenin, der alle Versuche, einzelne Entwicklungsetappen beim Aufbau des Sozialismus und Kommunismus zu überspringen, entschieden als „abenteuerlich“ und wirtschaftlich widersinnig verurteilt habe.

Nicht nur Chruschtschows Agro- städte waren gemeint, wenn der „Kommunist“ in seiner November- Ausgabe 1974 schrieb: „Es gibt nichts Gefährlicheres in der Politik als die Strategie und Taktik allein auf Wünsche zu gründen, ohne Rücksicht auf objektive Gesetze, Bedingungen und Möglichkeiten."

Wieder priesen „Prawda“, „Parteileben“ und „Kommunist“ die Wohltaten der kollektiven Führung. Nur sie schütze vor Einseitigkeiten und subjektivistischen Entscheidungen. Der Parteiprofessor Rodionow forderte in der „Prawda“ vom 21. Jänner, die Rolle der kollektiven Organe in allen Parteigliederungen zu stärken.

Noch ist nicht Klar auszumachen, wie die neue Machtkonstellation an der Spitze der Partei beschaffen ist. Doch es gibt eine Reihe von Anzeichen dafür, daß die Gegner Breschnjews in Partei, Armee und Staatssicherheitsdienst auf dem Vormarsch sind. Ihnen verdankte der Generalsekretär vor zehn Jahren seinen Aufstieg an die Spitze der Partei. Von ihnen, den traditionellen Stützen der Sowjetmacht, geht heute der stärkste Widerstand gegen Breschnjew aus.

Es ist die gleiche Kräftekombination, die im Oktober 1964 Chruschtschow — auch er, wie Breschnjew, ursprünglich ein Mann der Armee und des Parteiapparates — stürzte, weil er sich gegen ihre Interessen stellte. Macht und Einfluß dieses äußerst einflußreichen Funktionärsklüngels beruhen auf der Verfügungsgewalt über die Schwerindustrie, die 1974 mit einem Stahlausstoß von 136 Millionen Tonnen einen Weltrekord aufstellte.

Chruschtschow selbst hatte seine auf den Primat der Schwerindustrie eingeschworenen Gegner einmal als „Eisenfresser“ tituliert, die gleichsam stählerne Scheuklappen angelegt hätten und immerfort „Stahl! Stahl!“ riefen.

Es sind denn auch die Eisenfresser von der Sowjetarmee, die sich während Breschnjews Krankheit am lautesten zu Wort gemeldet haben. Auf einer Parteikonferenz der Politischen Hauptverwaltung der Sowjetarmee in Moskau beschwor Verteidigungsminister Marschall Gretschko kürzlich in gewohnter Weise die imperialistische Kriegsgefahr, die angeblich aus dem Westen drohe, und rief das Sowjetvolk zu neuen Produktionsrekorden auf.

Nach ihm sprach ZK-Sekretär Boris Ponomarjow, einer der schärfsten Kritiker von Breschnjews Westpolitik. Auch für ihn sitzt der Feind im Westen, bereitet der Imperialismus einen neuen Weltkrieg vor. Schon in .der April-Ausgabq des „Kommunist“ spekulierte Ponomarjow auf „grundlegende gesellschaftliche Umwälzungen“ in Westeuropa. Auf der Moskauer Armeekonferenz schlug er die kämpferischsten Töne an. Donnernder Applaus der Sowjetkrieger antwortete ihm.

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