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Vormarz in Moskau 1974

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In jeder Stadt, in jedem Dorf, in fast jeder Kolchose gedachten Sowjetbürger dieser Tage vor ungezählten Denkmälern, Büsten und Tafeln des 50. Todestages von Wladimir IIjitsch Lenin.Aber fast auf den Tag zugleich stellt zum ersten Mal ein Sowjetmensch (jenes beliebte Kürzel einer „ideologischen Nationalität“) Lenin in ein neues Licht. Oder anders: der Leninismus steht zum ersten Mal im hellen Licht — kalt, nackt, realistisch. Denn Alexander Solschenizyns „Archipel GULAG“ hebt sich aus der rein literarischen Sphäre ab. Das Werk ist, zwar von einem Dichter, einem Nobelpreisträger geschrieben, aber letztlich ist es eine politische Dokumentation. Und bezieht seinen Wert daraus.

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In jeder Stadt, in jedem Dorf, in fast jeder Kolchose gedachten Sowjetbürger dieser Tage vor ungezählten Denkmälern, Büsten und Tafeln des 50. Todestages von Wladimir IIjitsch Lenin.Aber fast auf den Tag zugleich stellt zum ersten Mal ein Sowjetmensch (jenes beliebte Kürzel einer „ideologischen Nationalität“) Lenin in ein neues Licht. Oder anders: der Leninismus steht zum ersten Mal im hellen Licht — kalt, nackt, realistisch. Denn Alexander Solschenizyns „Archipel GULAG“ hebt sich aus der rein literarischen Sphäre ab. Das Werk ist, zwar von einem Dichter, einem Nobelpreisträger geschrieben, aber letztlich ist es eine politische Dokumentation. Und bezieht seinen Wert daraus.

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Man darf freilich nicht übersehen, daß es eine lange russische Tradition für eine „politische“ Literatur gibt. Anders als in Westeuropa ist die russische, auch die sowjetische Literatur — fast durchwegs „politisch“. Zwar ist der Mensch in der Gemeinschaft und die Gemeinschaft als Gesellschaft deskriptives und analysiertes Beschreibungsobjekt — aber aus der Darstellung von besonderen Zuständen des Menschen spannt sich der Bogen zum allgemeinen Zustand der Gesellschaft. Der „Archipel GULAG“ ist als politisches Buch hier Gegenstand der Analyse; lind sein Autor ist hier als politischer Autor angefragt.

Der Leninismus sprengt den Rahmen des klassischen Marxismus insoweit, als er sich als konkretes Anleitungsmodell für die Revolution unter bestimmten Bedingungen versteht. Diese bestimmten Bedingungen weichen von jenen ab, die Karl Marx als wesentliche Voraussetzungen der Revolution ansah: kein quantitatives Übergewicht der Arbeiterschaft; keine erhebliche Kapitalakkumulation, daher auch keine Zusammenbruchskausalität. Rußlands Industrialisierungszustand hinkte im Jahre 1917 mit einem geradezu un-aufholbaren Abstand hinter dem europäischen her. Die Arbeiterschaft als „führendes revolutionäres Element“, getrieben von der Verelendung, konnte daher für Lenin nur insofern von Bedeutung sein, als er die allgemeine russische Situation durch Krieg, Desorganisation und den angestauten Freiheitswillen in sein Revolutionsmodell mit einbezog. Tatsächlich spielte ja das klassische Proletariat im Petrograd des Jahres 1917 nicht die revolutionsentscheidende Rolle. Vielmehr waren es hauptstädtische Intelligentsia, Soldaten, Landflüchtlinge und ein nicht unbeträchtlicher Teil Frauen, ( die zum Kern der bolschewistischen Bewegung wurden.

Lenins Revolution war keine klassisch-marxistische. Vielmehr war sie nicht zuletzt eine gesellschaftliche Eruption auf die latente Pression des autoritären Zaren-Regimes; etwas, was Europa schon im 19. Jahrhundert durchmachte.

Und der Liberalismus vollzog in Rußland erst 1917 die Revolution nach. Das aber führt uns geradeaus in die Problematik, die hinter Solschenizyns leidenschaftlicher Anklage des Leninismus-Stalinismus steckt; einer Anklage, die sich aus der spezifischen politischen Geschichte Rußlands ableiten läßt.

Wofür Solschenizyn kämpft und wofür seine Gesinnungsgenossen, wie etwa Sacharow und Lydia Tschu-kowskaja. auch begrifflich einstehen, ist eine Bewegung für die Anerkennung der Bürgerrechte. Jener Bürgerrechte, deren Negierung in der Existenz der Lager in der Sowjetunion, in der Ungesetzlichkeit der Justiz, in der Willkür der Polizeiorgane am deutlichsten und augenfälligsten zum Ausdruck kommt. Das erwächst aus keinem „Lager-Komplex“, wie das das offizielle Moskau sich selbst und den Landsleuten einreden möchte —, sondern das Lagersystem ist jene Stelle, wo das Eis am dünnsten ist — jene Stelle, an der man am deutlichsten und plausibelsten dem Sowjetbürger die systemimmanente Unfreiheit darstellen kann. Solschenizyn nachvollzieht damit gewissermaßen die Freiheitsdichtung, die in Europa eigentlich nur im Vormärz bestand. In der Forderung nach Anerkennung der Bürgerrechte werden die Systemkritiker so zu „Liberalen“, die um den Verfassungskatalog der Freiheits- und Menschenrechte ebenso kämpfen wie gegen Literatur- und Pressezensur. Sie nachvollziehen jene geistesgeschichtliche Bewegung, die Westeuropa 1848 schon vollendet hatte — weil es in der russischen Gesellschaft niemals' eine Phase liberaler Rechtlichkeit, geschriebener und garantierter Freiheit gegeben hat.

Aus dieser liberalen politischen Position kann Solschenizyn nicht mehr die Entartung des Leninismus als Ursache des Übels erkennen, sondern den Leninismus substanziell selbst: die Doktrin der Einparteien-herrscbaft, der gewaltsamen Sozialisierung, die notwendige, systemimmanente Bürokratisierung.

Solschenizyns Einordnung als „Liberaler“ verlangt Anführungszeichen. Jene nämlich, die klarstellen, daß der Liberalismus der Systemkritiker offensichtlich nicht ein solcher wirtschaftsdogmatischer Relevanz ist. Der liberale Europäer des 19. Jahrhunderts, der Bourgeois des aufgeklärten Salons bildete sein Weltbild erst durch den logischen Konnex von politischen und wirtschaftlichen Freiheitsrechten, er sah den Staat als notwendiges Übel zur Absicherung des Freiheitsraumes an. Nichts von alledem läßt sich aus den Vorstellungen Solschenizyns oder Sacharows herauslesen; vielmehr steht Sacharow (besonders in seiner Schrift „1984“) voll hinter den Wirtschafts-Doktrinen einer sozialisierten Planwirtschaft. Die Vorstellung, daß letzte politische Freiheitsabsicherung auch Wirtschaftsfreiheit (und damit „kapitalistische“ Normen) verlangt, ist ihm fremd.

Dennoch halten wir die These aufrecht: der Druck staatlicher Autorität hat in der Sowjetgesellschaft zu einem Stau geführt, der nach Entladung drängt. Die Schlagworte der liberalen Tradition werden als politische Manifestation einer autoritär verwalteten Gesellschaft zugerufen

— der Vormärz-Situation nicht unähnlich —, die sich in keiner Phase der Geschichte der Bürger- und Menschenrechte erfreuen konnte. Die Systemkritiker fordern diese Bürgerrechte dabei vor allem deshalb, weil der moderne Staat ein Verhältnis des Vertrauens zu seinen Bürgern braucht, das in der Sowjetunion

— und zwar schon durch Lenin — durch eine klassenbewußte, manchmal auch national verbrämte Gehorsams- und Untertanenhierarchie ersetzt wurde.

Die Systemkritiker sind Intellektuelle. An ihrer Spitze stehen Literaten, Dichter, Schriftsteller. Erst in zweiter Linie sind es Naturwissenschaftler.

Der Kampf der russischen Intellektuellen gegen den Staat ist klassische nationale Tradition — ja er gehört fast zum Leitbild des russischen Schriftstellers.

Der Ubergang der russischen Literatur von der Romantik zum Realismus vollzog sich eruptiv schon in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Die sich auf Gogol berufende „Natürliche Schule“ stand zentral im Zeichen der Kritik an gesellschaftlichen Zuständen und orientierte sich am Freiheitsraum des russischen Menschen, gleichgültig, ob sie sich im satirischen Genre wie die Schauspiele Ostrowskis oder die Prosa Turgenjews bewegte; Gontscharow geißelte die intellektuelle Resignation als Feigheit vor der Konfrontation; Dostojewski und Tolstoi entwickeln ihr sozialethisches Engagement zwar nicht vordergründig politisch, aber jedenfalls als durchgehende Kritik an einer sich versteinernden, nicht erneuernden, keinen höheren Idealen verpflichteten Gesellschaft, deren Ausformungen im täglichen Leben den Freiheitsraum des russischen Menschen ständig und nachhaltig bedrängten.

Eine solche Tradition ist der Nährboden für Solschenizyn. Versteht er sich etwa selbst als Dostojewski dieses Jahrhunderts? Will er sein eigenes Schicksal an dem Dostojewskis messen, der 1850 zum Tod verurteilt, dann zu einem Lageraufenthalt in Sibirien „begnadigt“ wurde? Ist Solschenizyns Darstellung im „Ersten Kreis der Hölle“ dem „Totenhaus“ Dostojewskis gleichzusetzen?In beiden geht es um Autobiographisches aus der Welt der Gewalt. Bei beiden Dichtern zeigt sich deutlich der religiöse Aspekt; die moralische Zuordnung des Christlichen zur Welt des Guten, zum Heilsgeschehen, an dem jeder Mensch beteiligt ist. Leitete Dostojewski daraus auch seine Kritik an dem angepaßten, fortschrittsbesessenen Künstlertum seiner Zeit ab, zielt auch Solschenizyn auf die parteikonformen Literaturbürokraten des Schriftstellerverbandes.

Die starke religiöse Beziehung, die aus Solschenizyns Werken spricht, ließe sein Weltbild als das eines „christlichen Liberalen“ umschreiben. Nicht zuletzt ist es ja die starke antisoziale Komponente des Liberalismus, die in der westeuropäischen Geschichte die Verbindung der beiden Elemente behindert hat. Sie fällt in der Sowjetunion Alexander Solschenizyns fort, wenngleich er die Fürsorge des Staates für das menschliche Wohl und die Grausamkeit des gleichen Staates gegen die menschliche Natur und den menschlichen Geist ironisch gegenüberstellt — exemplarisch in der „Krebsstation“, in der staatliche Gesundheitspolitik mit der Gesellschafts-pölitik des Regimes in ein ständiges Spannungsverhältnis tritt.

„Christlicher Liberalismus“ macht daher auch verständlich, daß Solschenizyn nicht in das Bild der westeuropäischen Linken paßt. Er läßt sich weder in neu-linke Schemata noch unter den Sozialdemokratis-mus richtig einordnen. Die versteckte Reklamation, die Heinrich Boll bei Solschenizyn vornimmt, ist ohne innere Rechtfertigung. Und die Absage Solschenizyns an die mißverstandene Entspannung ist nicht affektiver AntiSozialismus — sondern die logische Konsequenz aus der zentralen Forderung nach Sicherung der Menschenrechte in der Sowjetunion. Entspannung, so schrieb der Nobelpreisträger an eine norwegische Zeitung, kann nicht nur in der Ächtung des Krieges bestehen; richtig verstandene Entspannung muß von der Ächtung der Gewalt ausgehen. So wird auch klar, daß Entspannung nicht nur eine Frage der internationalen Politik, sondern der innenpolitischen Anwendung von Grundnormen zum Schutz der Menschen- und Freiheitsrechte sein muß. Wer mit der Sowjetunion friedlich zusammenleben will, muß auch an das Unfriedliche ihres Systems denken — das sich zwar in der derzeitigen Lage der Weltpolitik nicht nach außen, aber gegen ihre Bürger im Inneren kehrt.

So ist es ein Trugschluß, wenn Rudolf Augstein fragend meint, dieses Sowjet-Rußland ist nur „von oben“ voranzubringen, dort, wo Breschnew jetzt schon als „Reformer“ wirkt. Dieses Regime kann bloß nicht mehr das Rad zurückdrehen, und angesichts der internationalen Verflechtung seine Kritiker mit Stumpf und Stingel ä la Stalin verfolgen. Der Spiegel, den die sowjetischen Bürgerrechtskämpfer dem Sowjetstaat vorhalten, hat dort seinen Brennpunkt, wo eine immer breitere und wacher werdende Intelligentsia zur System-Analyse vorstößt. Und jedermann in der Sowjetunion weiß, daß es auch heute noch Lager gibt, daß auch heute noch Menschen in diesen Lagern, leben, die Solschenizyn beschreibt — und daß auch heute noch Menschen nächtens in solche Lager verfrachtet werden.

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