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Vorweihnachtlich

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Ein Fensterplatz in einem leidlich geheizten Bus an einem frühen Vorweihnachtsnachmittag ist was Feines. Schwerfällig arbeitet sich das freundliche Ungetüm von Fahrzeug um Straßenecken - hoch thront man über dem Schneematsch - und durch ungeräumte Nebenfahrbahnen hinaus aus der Stadt. Die selbst zeigt schon die untrüglichen Anzeichen extraordinärer Vor-festhektik. Langsam erst wird's stiller und ein bißchen ärmer. Der Bus hat das gleichmäßige Autobahntempo erreicht. Ich schlafe sofort ein.

Und schon träume ich: ich fahre gar nicht. Ich gehe. Am Rande der Autobahn blüht Mohn, durch ihn gehe ich und streife die Blüten mit der Hand und sie fallen nicht ab. Neben mir geht eine Frau, sie sieht mir sehr ähnlich, sehr, sie trägt gestreifte Anstaltskleidung und kommt aus dem Gefängnis, sagt sie. Es gibt aber keine Gefängnisse mehr und sie erzählt mir ihr Leben im Gehen, ich habe sie danach gefragt, was soll man sonst reden mit so einer. Das sei ihre Strafe, meint sie, sie würde die Streifen auf all ihren Kleidern nie loswerden und immer jemanden wie mir ihr Leben erzählen müssen, unaufgefordert, noch viele Jahre, sie wisse genau, daß ich nur neugierig wäre und daß niemals jemand mich dazu anhalten würde, ihr meines erzählen zu müssen und so würde sie nie dahinterkommen, ob mein Leben denn so viel besser wäre als ihres.

Beim Aufwachen sind wir ein gutes Stück weiter südlich. Barbara Frisch-muths vier Schreibmaschinenseiten hat es auf den Fußboden hinuntergeweht, ich sammle diese so hübsche Erzählung von dem Buben, der allein zu Hause sein muß, weil seine Mutter arbeiten geht, wieder ein. Ich soll sie heute am frühen Abend im Frauengefängnis Schwarzau vor den Strafgefangenen lesen. Der Bus transportiert ein paar meiner Kolleginnen und mich dorthin. ,

Es kann nicht gutgehen. Was soll ich mit der sehr genau beobachtenden Frischmutherzählung dort? Sicher hat ein Großteil der Inhaftierten ein oder mehrere solcher Kinder zu Hause, die wissen oder vielleicht noch nicht wissen, daß ihre Mütter in Wahrheit nicht arbeiten gehen, sondern eingesperrt sind.

Mit Texten über die Einsamkeit fahren wir in ein Gefängnis, wo uns jede einzelne der Frauen mehr und Hautnächstes über dieses Thema sagen könnte. Vergnügliches, Freundliches hätten wir mitnehmen, unsere literarischen Ambitionen zu Hause lassen sollen. Ich möchte aussteigen, bitte. Wir haben uns das Ganze nicht gut genug überlegt.

Das Schloß atmet k. und k.-Weitläu-figkeit und gelbe, im Park stehen Riesenbäume. Die hohen Mauern um das Ganze und der Polizist am Tor sind das wirkliche Schwarzau. Schon im Stiegenaufgang duftet es tröstlichst nach Gebackenem, für mich im Moment so tröstlich wie eine Mozartsymphonie in einem Prüfungszimmer. Als die Gefangenen in den Saal geführt werden, stehen wir uns - Gruppe gegen Gruppe -für einen Augenblick gegenüber, - die Kolleginnen Gusti W. und Melanie H. sehen den Gewohnheitsdiebinnen und Exterroristinnen direkt in die Augen -, dann beginnt die Lesung.

Totenstille, gierige Aufmerksamkeit, lebhafter Applaus, anschließend sofort Fragen und Antworten, wir werden nach dem Grad unserer Vorurteile diesem Ort gegenüber gefragt und als wir endlich die Frage stellen, ob denn Einsamkeit als Thema zumutbar gewesen sei, geben uns die Frauen von Schwarzau eine Antwort, die das Jahr über an uns hängenbleiben sollte: ihre Einsamkeit, vor der sie sich wirklich fürchten würden, begänne erst wieder vor dem Gefängnistor.

Die Hölle ist also draußen und draußen sind wir, fällt mir im Bus zurück nach Wien dazu ein.

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