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Votum nach Watergate

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Es darf als bekannt vorausgesetzt werden, daß die Vereinigten Staaten im wesentlichen jedes zweite Jahr wählen, eigentlich, infolge des Ablaufs gewisser Ämter, sogar jedes Jahr. Jeder erste Dienstag; im November ist also Election day. Jedes vierte Jahr ist Präsidentenwahl, jedes zweite Jahr Kongreßwahl..

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Es darf als bekannt vorausgesetzt werden, daß die Vereinigten Staaten im wesentlichen jedes zweite Jahr wählen, eigentlich, infolge des Ablaufs gewisser Ämter, sogar jedes Jahr. Jeder erste Dienstag; im November ist also Election day. Jedes vierte Jahr ist Präsidentenwahl, jedes zweite Jahr Kongreßwahl..

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Am 5. November 1974 wird alse ein neues Abgeordnetenhaus gewählt, ein Drittel der auf sechs Jahre gewählten Senatoren, viel« Gouverneure und Parlamentariel der 50 Gliedstaaten. Die Ergebnisse werden daher einen deutlicher! Trend anzeigeh, Und wenn man der Prognosen glauben darf, stehen die Auspizien für Präsident Fords Republikaner nicht zum Guten.

Die Kongreßwahlen 1974 gelter aus mehreren Gründen als Markstein. Es ist dies die erste große Wahl nach Watergate und das erste Mal, daß sich die Regierung Ford den Wählern stellt. Zwar nicht direkt, aber in der Person vieler hunderter republikanischer Kandidaten auf Bundes- und Staatsebene. Obwohl hier Persönlichkeiten und nicht Parteien aufeinanderstoßen, ist Watergate doch einer der gemeinsamen Nenner, gleichgültig, ofc nun der demokratische Kandidat den politischen Skandal zum Mittelpunkt seiner Angriffe macht, ‘oder bloß zum Gegenstand von Anspielungen. Ės ist die allgemeine Auffassung der politischen Pulsfühler, daß Nixons Rücktritt wohl entlastend gewirkt habe, daß aber Fords Begnadigungsakt politisch schlechl angekommen sei. Watergate fas1 schon zum Überdruß; dieser Tage begann auch der Prozeß gegen die früheren Mitarbeiter Nixons, denen Vertuschung des politischen Skandals vorgeworfen wird.

Trotz des Bekenntnisses zur Demokratie unter Pauken- und Trompetengetön, und trotz der moralischen Entrüstung, mit der sich viele demokratische Kandidaten in die Brust werfen, scheint doch die Wähler die Wirtschaftslage stärker zu interessieren als die innenpolitischen Skelette. Aber auch in diesem Bereich gibt es für die Republikaner wenig Lorbeeren zu ernten. Die Inflationsrate ist zweistellig und die Arbeitslosenziffer nähert sich der Sechs-Prozent-Grenze. An dieser Entwicklung trägt — abgesehen von internationalen Faktoren — die Regierung Nixon ebensoviel Schuld wie sie Anerkennung für enorme außenpolitische Leistungen verdient, Denn Nixon war in erster Linie ein Politiker, der die Wirtschaft kurzfristig von Wahl zu Wahl „manipulierte“, ohne ein langfristiges Konzept aufzustellen und das Publikum auf dieses zu verpflichten. Das Publikum hätte lieber die Wahrheit gehört, auch die bittere, statt sich durch kurzfristige Kosmetik täuschen zu lassen. Präsident Ford hat bald nach Regierungsantritt erkannt, daß er mit der Wirtschaftsproblematik steht und fällt. Er hat daher zuerst, etwas zögernd, aber in seiner ruhigen und gründlichen Art, eine Bestandsaufnahme angeordnet und ist dann mit einem Inflationsbekämpfungspaket vor den

Kongreß und die öffentlichkeil getreten, das gemischte Aufnahme fand. Meinem Empfinden nach wai das Programm zu „politisch“, das heißt: nicht mutig genug, um der Präsidenten über das Parteiinteresse hinauszuheben, dafür aber auch wieder schmerzhaft genug, de Ford eine fünfprozentige Steuererhöhung forderte, die vor allem die Mittelklasse zu tragen hat, die, wie in den meisten westlichen Ländern immer zur Kasse gebeten wird.

Viele demokratische Kandidater versprechen daher den Wählern, da£ sie gegen eine Steuererhöhung stimmen werden, was zweifellos „zieht“ Einigermaßen überraschend ist jedoch in den letzten Tagen die Inflationsrate gefallen und manch eir Wirtschaftsprophet erklärt bereits daß der Inflation mm das Rückgral gebrochen sei und daß infolgedessen niedrigere Zinsen zu erwarter seien. Die Börse hat einen gewaltigen Hochsprung aus tiefsten Tiefer vollbracht, aber niemand traut diesem Frieden noch recht, denn eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Überdies würde dieser Inflationsrückgang mit Arbeitslosigkeil im kommenden Jahr zu bezahlen sein, die manche bei sieben Prozenl und darüber erwarten. Für gewöhnlich werden aber die Republikanei mehr durch Inflation als durch Arbeitslosigkeit politisch geschädigt Denn jene, denen Arbeitslosigkeit droht, wählen ohnedies demokratisch.

Als weiterer politischer Konfron- tatiöhspunkt haben sich Emotioner entwickelt, die man am ehesten als ein konservatives Auflehnen geger die „neue Zeit“ charakterisieren könnte. Da gibt es zur Zeit in West- Virginia, also in einem der wirtschaftlich ärmsten Bereiche der Staaten, einen Schulbücherkonflikt der in seiner Leidenschaftlichkeit an die einstige Auflehnung gegen Darwins Lehren erinnert. Empörte Eltern protestierten gegen Schulbücher, die unter anderem den revolutionären Kampf der Neger gegen die Weißen, den Protest gegen den Wehrdienst in Vietnam verherrlichten, oder eindeutig antireligiöse Elemente enthielten. Diese Proteste kulminierten in Bränden von Schulen, ja sogar in politischen Morden, und spielten sich daher nicht bloß auf intellektuellem Niveau ab. Man muß sich hier den Haß einfacher

Kohlenarbeiter gegen glatte Intel- S lektuelle vorstellen, die meist aus ri anderen geographischen Bereichen S zugewandert sind, die Kinder gegen E die „alten Werte“ aufzubringen, 1! Auseinandersetzungen, die infolge e: des geistigen Niveauunterschiedes n gar nicht auf der Ebene der Diskus- li sion auszukämpfen sind. Hier spricht die Faust, die Sprache der h Emotion, ähnlich wie damals, als es d Vizepräsident Agnew gelungen war, die „mittleren“ Amerikaner gegen die Arroganz der intellektuellen Presse zu mobilisieren.

Eine klassische Konfrontation „alt gegen neu“, Weiß gegen Schwarz, gibt es zur Zeit in Boston, wo die wirtschaftlich arme weiße Bevölkerung mit Brachialgewalt die von den Gerichten angeordnete Integration der Schulen durch Autobustransport weißer Kinder in schwarze Schulen und Schwarzer in weiße Schulen bekämpft. Bostons lokale Polizei kann die Situation nicht mehr unter Kontrolle halten und fordert Bundespolizei an. Präsident Ford, der sich selbst gegen das „Busing“, wohl aber auch für die Einhaltung der Gesetze ausgesprochen hat, will bis zum letzten Staatspolizisten von Massachusetts „kämpfen“, das sowieso der einzige demokratische Staat im republikanischen Nixon-Erdrutsch von 1972 war.

Es scheint also, allgemein gesehen, keinen Pluspunkt für republikanische Kandidaten zu geben. Trotzdem kommt ihnen vielleicht ein allgemeiner Trend zugute: die generelle Ablehnung des Politikers als solchen, welcher Partei auch immer er angehört, und damit eine an Verachtung grenzende Einstellung gegenüber den parlamentarischen Körperschaften. Wo neue Gesichter auftauchen, die zu erkennen geben, daß sie „Nichtpolitiker“ sind, daß sie es ehrlich und nicht „politisch“ meinen, haben sie Chancen.

Da aber sowohl Senat als auch das Abgeordnetenhaus erhebliche demokratische Mehrheiten aufweisen, mag dieser Trend zum „Unpolitischen“ manchem republikanischen Kandidaten zugute kommen und damit die zu erwartende Niederlage in tragbaren Ausmaßen halten.

Was ist jedoch „tragbar“, nämlich von der im Amt befindlichen Regierung Ford aus gesehen? Jeder Verlust, der sie nicht des Vetos gegen Kongreßbeschlüsse beraubt, die ihr politisch nicht vertretbar erscheinen. Der Kongreß benötigt eine Zweidrittelmehrheit, um solch ein Veto des Präsidenten zu überstimmen, und eine solche hat er in den meisten Fällen bis jetzt nicht zustandegebracht. Im Senat standen bis jetzt 56 Demokraten 42 Republikanern, einem Konservativen und einem Unabhängigen gegenüber. Hier müßte viel geschehen, um des Präsidenten Vetomöglichkeit in Frage zu stellen. Aus der Konstellation der jetzt im November zur Wiederwahl aufgerufenen Senatoren läßt sich mit einem Verlust von etwa drei bis vier republikanischen

Sitzen rechnen, was für die Regierung noch keine Katastrophe wäre. Schlimmer sieht es im Haus aus. Hier stehen 243 Demokraten bloß 191 Republikaner gegenüber und ein Verlust von 20 bis 30 republikanischen Sitzen, der durchaus möglich ist, würde den demokratischen Vorsprung auf etwa 100 Stimmen hinaufschnellen lassen. Hier könnte die Zweidrittelmajörität gegen ein Veto des Präsidenten in den Bereich des politisch Möglichen rücken, insbesondere dann, wenn es sich um ein unpopuläres Veto handelt, das bei den vorgesehenen Sparprogrammen unvermeidlich sein dürfte!

In diesen Herbstwahlen werden aber auch die Weichen für die Präsidentschaftswahlen von 1976 gestellt. Nicht nur können sie Präsident Ford der Möglichkeit zu regieren berauben. Es wird sich auch zeigen, ob das Land in seiner Gesamtheit nach links rückt oder im Zentrum verbleibt. Dementsprechend werden sich dann die Chancen jener demokratischen Präsidentschaftsanwärter abzeichnen, die nach Senator Kennedys Ausscheiden vor den Toren warten.

Ob liberale Politiker wie Prox- mire oder Mondale der Stimmung der Bevölkerung näherstehen als Zentristen wie Gouverneur Wal-

lace, Senator Jackson oder Senator Bentsen.

Auch im republikanischen Lager ist noch nicht alles ausgegoren. Wohl gilt im allgemeinen ein amtierender Präsident als automatischer Kandidat seiner Partei. Aber nur, wenn er das will. Niemand kann heute Voraussagen, ob Präsident Ford seine politische Verpflichtung über die Sorge wegen seiner an Krebs operierten Frau stellen wird, noch kann man heute mit Sicherheit Voraussagen, ob Nelson Rockefeiler, der designierte Vizepräsident, die im 25. Amendment erforderliche Bestätigung durch den Kongreß finden wird. Es könnten also 1976 ganz neue Präsidentschaftskandidaten in die Schranken treten, die jetzt, im November, vorerst einmal den politischen Wind prüfen werden.

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