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Wachstum durch Demokratie Pekings neue Zauberformel?

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„In den 105 Jahren von den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte der vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts sind fast alle großen, mittleren und kleinen imperialistischen Staaten der Welt in unser Land eingefallen und gegen uns zu Felde gezogen. Abgesehen vom letzten derartigen Krieg, nämlich dem Widerstandskrieg gegen die japanische Aggression, der auf Grund verschiedener innerer und äußerer Faktoren mit der Kapitulation des japanischen Imperialismus sein Ende fand, wurden wir in all diesen Kriegen geschlagen, endeten sie alle mit der Unterzeichnung von Verträgen mit demütigenden Bedingungen. Die Ursachen dafür waren: erstens die ver- faulte Gesellschaftsordnung, zweitens die ökonomische und technische Rückständigkeit.“

Mit diesem Zitat Mao Tse-tungs aus dem Jahre 1963 umriß der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Chinas und nunmehrige Ministerpräsident Hua Kuo-feng die Situation, in der er die konstruktive Phase seiner politischen Tätigkeit an der Spitze des 900-Millionen-Volkes nach der Konsolidierung seiner Position seit dem Sturz der „Viererbande“ eröffnete. Es gilt, China bis zum Ende dieses Jahrhunderts, also in etwas mehr als 20 Jahren, an das ökonomische Niveau der fortgeschrittenen Industrieländer heranzuführen, will es nicht neuerlich in koloniale Abhängigkeit geraten.

An dieser Möglichkeit hatten seine nunmehr gestürzten Gegner gezweifelt und gewissermaßen den Austritt Chinas aus der Geschichte empfohlen, indem sie die Übernahme moderner industrieller Strukturen als „kapitaliti-sche Restauration“ ansahen und lieber eine „reine“ Gesellschaft in heroischer Armut anstrebten, vielleicht im Bewußtsein, daß China zwar sterben, aber nie erobert werden kann.

Wenn man in - ganz unchinesischem — pessimistischem Geist versuchsweise beiden Standpunkten recht gibt, steht China vor folgender Alternative: Entweder es industrialisiert sich nicht, dann gerät es in Abhängigkeit her Industriestaaten, weil es ihnen als rückständiges Land nicht widerstehen kann; oder es industrialisiert sich, dann gerät es in deren Abhängigkeit, weil es die fortgeschrittene Technologie aus den Industriestaaten beziehen muß.

Während die erste Alternative den die Meinung über China prägenden westlichen Beobachtern unheimlich, bizarr oder lächerlich erschien und sie außerdem fälschlicherweise glaubten, daß diese Zustände bereits seit dem Beginn der Kulturrevolution vorhanden sind, scheinen sie nach der für sie unerwarteten Wende der zweiten fiktiven These zu folgen: Sie zeigen sich höchst erfreut, daß China dem „Maoismus“ abgeschworen hat und einen „pragmatischen“ Weg zu gehen gesonnen ist, daß man ins Geschäft kommen kann, das heißt, daß die Chinesen den „Kommunismus“ aufgeben und sich wie clevere Leute im Westen benehmen.

Aber China ist heute weniger pessimistisch denn je, und da die Chinesen nicht zu Unrecht für praktische - nicht pragmatische - Leute gehalten werden, muß untersucht werden, worauf sie ihren Optimismus gründen.

Er gründet sich auf eben jene ominösen Ideen Mao Tse-tungs, von denen man glaubt, daß sie auch mit Mao gestorben sind, weil sie seit seinem Tod immer wieder gepriesen werden. Die Gedanken Mao Tse-tungs, die so geheimnisvoll und widersprüchlich anmuten, gehen aber von einer einfachen Frage aus, die im Westen nicht mehr gestellt wird, weil sie schon als beantwortet erscheint: Was sind die Bedingungen für Freiheit und Wohlstand eines Volkes? Das ist die Frage nach der richtigen Gesellschaftsordnung und die These, daß nur eine Gesellschaft menschenwürdig ist, in der diese

Frage gestellt und diskutiert wird. Das Problem der technischen Entwicklung ist also ein politisches Problem und nicht eines des Technologie-Imports.

Während mit „pragmatisch“ gemeint ist, daß man es um des Fortschritts willen mit den Grundsätzen nicht so genau nimmt, ist die Auffassung des chinesischen Sozialismus „ideologisch“, also eine immerwährende Diskussion um die Bedingungen einer fortschrittlichen Gesellschaftsordnung. Diese umfassende politische Sicht der ökonomischen Probleme ist es nun, die der heutigen chinesischen Gesellschaft den Grund für ihren Optimismus gibt. „Kapitalistisch“ heißt für sie die Ausklammerung der gesellschaftlichen Grundfragen aus dem ökonomischen Prozeß. Dies muß notwendigerweise zur politischen Krise des kapitalitischen Systems führen Welchen Stand hat aber die politische Diskussion in China zuletzt erreicht?

„Wichtige Angelegenheiten müssen auf Vollversammlungen oder Delegiertenkonferenzen der Kommune-Mitglieder diskutiert und beschlossen werden und nicht von einigen wenigen. Beim landwirtschaftlichen In-vestbau, bei der Verbesserung der Anbaumethoden, bei der Ausarbeitung der Anbaupläne und anderen Maßnahmen zur Produktionssteigerung müssen die Meinungen der Kommune-Mitglieder erfragt und die praktischen Erfahrungen der Massen voll berücksichtigt werden... Wir müssen uns unbedingt gegen jeden Zwang, gegen willkürliches Erteilen von Befehlen und Herumkommandieren wenden.“ (Hua Kuo-feng in seinem politischen Bericht vom 26. Februar.) Diese Diskussionen sollen der Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion dienen. Die Teilnahme der Kornmij| ne-Mitglieder an den Entscheidungen

über die Produktion ist also ein wesentlicher Produktionsfaktor.

Der seit dem Sturz der Viererbande immer wieder gehörte Aufruf zur Disziplin ist keine Aufforderung zum Schweigen - im Gegenteil: er ist eine Aufforderung an das Volk, sich stärker an der Gestaltung des Arbeitsprozesses zu beteiligen. Diese Beteiligung ist gerade für die Steigerung der Produktion unerläßlich, weil diese ohne den Enthusiasmus jedes einzelnen nicht erreicht werden kann. Diese Beteiligung verlangt aber auch nach Institutionalisierung, weil nur so die Ergebnisse der Diskussion fruchtbar gemacht werden können. Gerichtet ist das gegen die Ultralinke, die Demokratie in der uninstitutionalisierten „Spontaneität“ der Massen sah, was

aber Willkür und Unterdrückung nur förderte.

Die politische Basis des neuen Kurses ist also institutionalisierte Demokratie. Dieses frappierende Ergebnis wird auch durch eine Analyse der neuen Verfassung untermauert. Im Artikel 35 heißt es wie in der Verfassung von 1975: „Die örtlichen Volkskongresse aller Ebenen sind die örtlichen Organe der Staatsmacht.“ Wie bisher werden die Volkskongresse der höheren Ebenen jeweils von den Volkskongressen der niederen Ebenen gewählt. Neu ist aber, daß die Volkskongresse und Revolutionskomitees der Basis „von Wählern nach demokratischer Beratung in geheimer Abstimmung direkt gewählt“ werden.

Neu ist auch, daß „die Wahleinheiten und Wähler, die die Abgeordneten der verschiedenen Ebenen wählen“, das Recht haben, „ihre Abgeordneten zu kontrollieren und entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen jederzeit abzuwählen und zu ersetzen.“ Aus diesem Kontrast zur alten Verfassung geht eindeutig eine Stärkung der „formalen“ Demokratie hervor. Die neue Verfassung unterscheidet sich denn auch von der alten hauptsächlich durch ihre stärkere Präzisierung von Grundrechten der Bürger. Die Lehren, die man aus der Vergangenheit gezogen hat, sind sehr schön am Beispiel des Artikels 47 zu sehen. Wie 1975 heißt es: „Kein Bürger darf ohne Beschluß eines Volksgerichts oder Genehmigung durch eine Volks-Staatsanwaltschaft verhaftet werden“; dann kommt aber der neue Zusatz: „Verhaftungen müssen durch die Sicherheitsorgane vorgenommen werden.“ Auch hier ein Abbau „demokratischer“ Spontaneität zugunsten der Rechtssicherheit.

Die initiative Beteiligung des Volkes am Aufbau der Gesellschaft muß

durch den Schutz vor politischer Willkür erreicht werden. So betont auch der stellvertretende Parteivorsitzende und Vorsitzende des ständigen Ausschusses des Nationalen Volkskongresses Yä Djiän-ying in seinem Kommentar zur Verfassung: „Unter unserem sozialistischen System sind die Volksmassen die Herren des Landes. Unsere sozialistische Demokratie ist eihe Demokratie, die tatsächlich gewährleistet, daß die Volksmassen die Herreh des Staates sind. Diesbezüglich äußerte der Vorsitzende Mao einmal treffend, das Volk müsse das Recht haben, über den Uberbau zu bestimmen. Die Frage der Rechte des Volkes dürfe man nicht so interpretieren, als könnten die Massen nur dann das Recht auf Arbeit, Bildung, Sozial-

Versicherung und so weiter genießen, wenn ganz bestimmte Leute die Administration in der Hand hätten.“ .

In dieselbe Richtung zielt die Wiederbelebung der „Hundert-Blumen-Bewegung“, die die wissenschaftliche Diskussion beleben soll. Daß gleichzeitig die Bedeutung der Zentralen betont wird, bildet nach chinesischem Verständnis hiezu keinen Widerspruch, da den Zentralen die Koordination der demokratisch gewonnenen Resultate obliegt. Daher bedingt mehr

Freiheit mehr Ordnung und umgekehrt.

Dieser Entwicklung scheinen gewisse Tendenzen zur Straffung der Führung in der Industrie zu widersprechen, die einige Kommentatoren als Abschaffung der Revolutionskomitees ansahen. Die Revolutionskomi-tees werden aber nicht abgeschafft, sondern im allgemeinen neu gewählt Allerdings werden auf Bezirksebene keine Revolutionskomitees errichtet.

Man kann in dieser Vorgangsweise natürlich ein Element der Entdemo-kratisierung erblicken, aber eher ist darin der Versuch zu sehen, die politische Kontrolle über die Wirtschaft zu stärken, also eine „Parlamentarisierung“, wird doch die Kontrolle der Volkskongresse über die Wirtschaft

erweitert, denen sie dann auch verantwortlich ist.

Diese Tendenz zu stärkerer Durch-schaubarkeit und Verläßlichkeit scheint auch für die äußeren Beziehungen des Landes zu gelten. Die Außenpolitik Chinas gründet sich auf der Lehre von den drei Welten, nach der die Zweite Welt - zu der auch Europa gehört - zu einer stärkeren Zusammenarbeit mit den Ländern der Dritten Welt gewonnen werden soll. Nach chinesischer Auffassung würde eine solche Zusammenarbeit einer Emanzipation sowohl der Zweiten als auch der Dritten Welt von den Supermächten dienen.

Hua Kuo-feng dazu: „Wir unterstützen die Länder der Zweiten Welt in ihrem Kampf gegen die Bedrohung, Einmischung, Subversion und Kontrolle durch die Supermächte, insbesondere durch den sowjetischen Sozialimperialismus. Wir unterstützen die Bestrebungen der westeuropäischen Länder zum Zusammenschluß gegen den Hegemonismus und wünschen uns ein starkes und vereintes Europa. Wir hoffen auch, daß die Länder der Zweiten Welt ihre Kontakte mit den Ländern der Dritten Welt auf der Grundlage der fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz verstärken werden.“ Von beiderseitigem Interesse an diesem Konzept sind zunächst die Handelsbeziehungen, wie der jüngst abgeschlossene Vertrag zwischen der VR China und der EWG beweist.

In seinem Bericht deutet Hua Kuo-feng an, daß China keineswegs beabsichtigt, bloß als Agrar- und Rohstofflieferant an diesem Handel teilzunehmen. „Wir müssen unser Augenmerk sowohl auf den Export von Massenartikeln als auch auf den Export von Artikeln in geringerer Stückzahl richten. Neben der Steigerung des Exports von Agrar- und Nebenprodukten müssen wir den Exportanteil der Industrieprodukte und mineralischen Produkte erhöhen.“ Und dann die deutliche Ankündigung einer Exportoffensive: „Wir werden eine Anzahl von Produktionsstätten für industrielle und mineralische Produkte sowie für Agrar- und Nebenprodukte für den Export schaffen.“ Es scheint nicht, daß China ein bequemer Handelspartner sein wird und seinen Vorteil als Niedriglohnland auf dem Weltmarkt^voll auszunützen gedenkt.

Es zeigt sich also, daß die neue chinesische Führung darauf vertraut, die anfangs angeführte Alternative vermeiden zu können. Die Grundlage dieser Hoffnung bildet die demokratische Vertrauenswürdigkeit des Systems nach innen und außen.

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