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Wachstum wird überschätzt

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„Sozialprodukt oder Wohlstand?“ heißt eine ausführliche Untersuchung der Schwächen unserer Volkseinkommensrechnung. Im folgenden Beitrag wird anhand von Beispielen die Grundaussage des Buches illustriert: Unser Wohlstand wird überschätzt.

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„Sozialprodukt oder Wohlstand?“ heißt eine ausführliche Untersuchung der Schwächen unserer Volkseinkommensrechnung. Im folgenden Beitrag wird anhand von Beispielen die Grundaussage des Buches illustriert: Unser Wohlstand wird überschätzt.

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Eine junge Ärztin hat viele Jahre hindurch ihren Beruf nicht ausgeübt und sich ihren Kindern und ihrem Haushalt gewidmet. Sie beschließt, eine Ordination zu eröffnen. Wie wirkt sich dies in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VwGR), jenem Instrument mit dem wir den materiellen Wohlstand eines Landes messen, aus?

Ihre Einkünfte (Honorare und Vergütungen für Krankenscheine) und die Aufwendungen für den Betrieb ihrer Ordination bilden die Basis der Berechnung: Die Differenz aus Einkünften und Aufwendungen wird als ihr Beitrag zum Nationalprodukt verbucht.

Nehmen wir an, daß durch ihren Ausfall zu Hause ihr gesamtes Einkommen für Kindergarten, Kindermädchen, Bedienerin und Gärtner aufgeht. Dann steigt die wirtschaftliche Leistung noch

einmal um den Betrag ihres Verdienstes. Es werden nämlich Leistungen rechenbar gemacht, die vorher zwar genauso erbracht, aber nicht erfaßt worden waren.

An diesem Beispiel wird ein Grundproblem der VwGR offenbar: Sie hat die Tendenz, Wohlstandssteigerungen zu überschätzen. Dies geschieht nämlich immer dann, wenn Bereiche, die vordem nicht erfaßt werden konnten (etwa die Naturalwirtschaft in Entwicklungsländern), vom Markt verdrängt werden.

Im allgemeinen wird in das Sozialprodukt nur das einbezogen, was die „Marktprobe bestanden hat“. Einen wirtschaftlichen Wert haben nämlich nur Güter und Leistungen, denen am Markt ein Preis zugeteilt wird.

Damit fällt viel, was für unser Leben wertvoll ist, durch den Rost: die „freien Güter“ (Wasser und Luft werden erst berücksichtigt, wenn sie knapp werden), eine funktionierende Umwelt, ungehobene Bodenschätze usw…

Der Einwand, daß es eben nicht nur wirtschaftliche Werte gäbe, hat sicher seine Berechtigung. Man muß nicht alles in Geld aus- drücken. Diese richtige Einsicht wird jedoch allzu leicht vergessen, wenn es zu Konflikten zwischen rechenbaren wirtschaftlichen und nicht rechenbaren Interessen kommt.

Umweltschäden sind ein Beispiel für soziale Kosten, deren Verbuchung Schwierigkeiten bereitet. Ein Beispiel mag dies illustrieren: Zur Herstellung seiner Produkte benötigt ein Unternehmen das Wasser eines angrenzenden Flusses. Trotz des Einbaus der vor geschriebenen Filter

kommt es zur Abgabe schmutziger Abwässer an den Fluß. Ähnliches tun stromabwärts gelegene Betriebe und Gemeinden.

Dadurch kommt es insgesamt zu einer starken Wasserverschmutzung. Eine Kläranlage muß mit öffentlichen Mitteln errichtet werden. Dieser Aufwand wird im System der VwGR als positiver Beitrag zum Sozialprodukt verbucht, ebenso wie der Betrieb der Anlage. Dabei handelt es sich hier ganz offenkundig um eine Kostenposition.

Die Leistung der Anlage besteht ja nur in der Beseitigung eines Übels. Nur der Umstand, daß die Verursacher des Schadens und die Träger der Beseitigungskosten nicht ident sind, führt zu dem absurden Ergebnis, daß die Beseitigung eines Schadens als Wohlstandsvermehrung verbucht wird.

Untersuchungen für die USA zeigen, daß Umweltschäden heute schon eine bedeutende Rolle spielen: Berücksichtigt man den Umstand, daß stets nur ein beschränkter Ausschnitt der Schäden erfaßt wurde, sprechen die Werte zwischen zwei und 4,5 Prozent des BNP eine deutliche Sprache: Wohlstand wird überschätzt!

Ein weiterer Punkt: Die volkswirtschaftlich zu Buche schlagende Wertschöpfung ergibt sich stets aus der Differenz von Ertrag und Aufwendungen (Vorleistungen Dritter) einer Einheit. In der VwGR können jedoch private Haushalte und der Staat (sofern er nicht als „Quasi-Unternehmer“ auftritt) keine Vorleistungen im Wirtschaftsgeschehen erbringen. Dies spiegelt aber durchaus nicht die gegebenen Realitäten wider, wie die folgenden Beispiele illustrieren:

Dank des technischen Fortschritts konnten für Ferntransporte in der Vergangenheit immer schwerere Lastfahrzeuge eingesetzt werden. Die Folge: Bestehende Brücken und Straßen werden stärker abgenützt, neue müssen für höhere Anforderungen angelegt werden.

Die damit verbundenen höheren Infrastrukturaufwendungen stellen eindeutig Begleitkosten der technischen Entwicklung dar. Als öffentliche Ausgaben werden sie als positiver Beitrag zum Sozialprodukt verbucht. Für die breite Öffentlichkeit bringen die Zusatzausgaben keine Wohlstandsvermehrung: PKWs rollen auf billigeren Straßen ebenso gut wie auf den stabileren.

Die Zusammenhänge können aber noch weitläufiger seih: Die USA stellen eine Interventionstruppe zum Schutz der Erdölfelder im Vorderen Orient auf. Dies kann unter dem Motto „Mehr Sicherheit für den US-Bürger“ als öffentlicher Konsum verkauft*

werden. Eigentlich ist es aber eine Kostenposition: Weil das heutige Wirtschaftssystem international so verflochten ist und die USA von Erdölimporten abhängig sind, müssen sie diese Aufwendung tätigen.

Selbst die Ausgaben der privaten Haushalte können nicht alle als Konsum gewertet werden: Kosten für die Anreise zur Arbeit (besonders bei Pendlern), Teile der Anschaffungs- und Betriebskosten von Fahrzeugen, Kosten berufsbedingten Umzugs, der durch lange Wegstrecken verursachten Gesundheitsschäden, usw… sind vom einzelnen getragene Kosten unseres Wirtschaftssystems.

Auch die im Vergleich zum ländlichen Raum hohen Kosten des Lebens in der Stadt gehören in diese Kategorie: die höheren Bodenpreise und Baukosten, hohe Aufwendungen für Müllabfuhr und Wasserversorgung, für die Kosten eines komplizierten Verwaltungsapparats, innerurbane Transporte usw…

Unter anderen hat auch der amerikanische Nobelpreisträger Simon Kuznets Schätzungen für diese Kosten der Systemveränderung und des technischen Fortschritts angestellt: Demzufolge gab der Staat in den späten sechziger Jahren rund acht Prozent des BNP und die privaten Haus

halte sogar zwölf Prozent für solche Begleitkosten aus! Und der Anteil dieser Systemkosten steigt weiter.

Warum sind solche Feststellungen wichtig? Da wir als Ziel unserer Wirtschaftspolitik ein hohes Sozialprodukt ansteuern, ist die Art seiner Erfassung entscheidend. Sie lenkt nämlich wirt-

schaftspolitisches Tun. Durch unseren derzeitigen Zugang wird aber eine Entwicklung begünstigt, die zwar zu Rationalisierungen beim Einzelunternehmen führt, im Gefolge jedoch ein immer komplizierter werdendes Wirtschaftssystem entstehen läßt. Seine Kosten tragen - ohne daß sie als solche erkannt werden — die privaten und öffentlichen Haushalte. Wollen wir in Zukunft wachsenden Systemzwängen entgehen, werden wir daher auch die Art der Erfassung des Sozialprodukts ändern müssen.

SOZIALPRODUKT ODER WOHLFAHRT? Von Alois Steiger. Verlag Rüegger Diessen- hofen 1979,481 Seiten -

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