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Wachstum zum Tode

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DDR und Ungarn wählten den Wohlstand, nun lockt und droht ein Wachstums- schub. Dieser Auszug aus einem kürzlich erschienenen Buch ist geeignet, die Eu- phorie zu dämpfen.

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DDR und Ungarn wählten den Wohlstand, nun lockt und droht ein Wachstums- schub. Dieser Auszug aus einem kürzlich erschienenen Buch ist geeignet, die Eu- phorie zu dämpfen.

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Wenn Grenzziehungen nicht ge- lingen mögen, so hat dies vor allem damit zu tun, daß sich der Mensch der Gegenwart als Kulturwesen nicht zuerst als Verstandeswesen, sondern als materiell begehrendes Subjekt interpretiert, dem ein .Recht auf alles' zusteht. Dies wird jedoch spätestens dann unnatür- lich, wenn dieses Recht - als Be- dürfnis interpretiert - instrumen- talisiert wird. Denn Bedürfnisse sind definitionsgemäß ad inf initum unerfüllbar, und ihre Instrumenta- lisierung durch die Ökonomie ver- leiht ihnen eine Eigendynamik, die einen Umfang angenommen hat, der weit über das hinausweist, was zur Befreiung des Menschen von na- türlichen Zwängen notwendig ist.

Das Signum unserer Zeit ist der Homo faber, dessen intellektuel- len und mechanischen Angriffen sich nichts mehr zu widersetzen vermag - der Griff nach den Ster- nen ebensowenig wie der Eingriff in die Evolution -, und sein Me- dium ist die Ökonomie: der Motor der Grenzüberschreitungen und die Bremse der Selbstverantwor- tung. Ursprünglich dazu bestimmt, taugliche Mittel zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse in aus- reichender Menge und Qualität einem mehr oder minder genau umschriebenen Personenkreis mit Nachhaltigkeit zur Verfügung zu stellen und dadurch zur sozialen Befriedung beizutragen, ist die Wirtschaft an diesem Ziel vorbei- und darüber hinausgeschossen.

Profit ist die entscheidende De- terminante des ökonomischen Pro- zesses, der durch Wachstum in Gang gehalten wird; daran gemessen, sind alle anderen Entscheidungen ne- bensächlich. Nur wer sich dieser Maxime beugt, kann sich behaup- ten; jedes andere Verhalten ist un- ökonomisch und zieht die Gefahr der Niederlage nach sich. Darin ist die kapitalistische Logik unerbitt- lich.

Dies wird als der entscheidende Beitrag des Kapitalismus zur wirt- schaftlichen Entwicklung gefeiert; insoweit sogar zu Recht, denn es hat bisher kein Wirtschaftssystem gegeben, das vergleichbare mate- rielle Erfolge vorzuweisen hatte, wie gerade die Konkurrenz egoistischer Interessen. Die Höhe des Sozial- produktes ist historisch jedenfalls ohne Vorbild; die Einsicht, daß es ein falscher Gradmesser gesell- schaftlichen Wohlstandes oder gar Wohlbefindens sein könnte, hat sich bis heute freilich ebensowe- nig durchzusetzen vermocht wie die Einsicht in die Gefährdungen, die von exponentiellem Wachstum ausgehen.

Nach wie vor gilt Wachstum je- denfalls als das Ziel der Wirt- schaftspolitik. Eine Gesellschaft, die sich einmal auf dieses tödliche Spiel der Grenzüberschreitung ein- gelassen hat, bedarf unabdingbar ökonomischen Wachstums, weil ohne Wachstum Stagnation eintritt, die ins soziale und politische Chaos führt. Dieses Ergebnis ist aus Re- zessionen.gar aus Weltwirtschafts- krisen hinlänglich vertraut. Aus Wachstumsgründen bedürfen libe- ral verfaßte Wirtschaften daher auch der permanenten .Fortschrit- te' - auch wenn sie sich bloß im Kreise « drehen.

Dies ist der Lauf der Ökonomie; libe- rale Volkswirtschaf- • ten ertragen keinen Mechanismus, der die individuelle Initiati- ve begrenzt. Prinzi- pielle Beschränkun- gen der privaten Ver- fügbarkeit des Eigen- tums wären immer zugleich Eingriffe in die Ordnung der ge- samten Verfassung, durch die nicht nur das Wirtschafts-, sondern zugleich auch das politische System erschüttert würde. An dieser Konstellation inter- essiert ist keineswegs nur die Wirtschaft, interessiert ist in grundsätzlich glei- cher Weise auch der Staat, dem Wachs- tum als legitimieren- der Nachweis eigener Potenz dient.

Diese Überlegung vermag wenigstens im Ansatz zu zeigen, daß und weshalb Ökonomie nicht mehr nur Mittel zum Zweck, sondern Zweck aus eigener Gesetzlichkeit, Selbstzweck gewor- den ist. Fortgesetztes Wirtschaftswachs- tum ist in der Wachs- tumswirtschaft nur noch erforderlich, um die etablierte Reali- tät der politischen Ökonomie zu bewah- ren. Daher ist nicht mehr der Bürger au- tonom in der Formu- lierung seiner Forde- rungen an die Wirt- schaft, autonom droht vielmehr die Wirtschaftsweise zu werden, deren ano- nymen Funktionsge- setzlichkeiten sich die individuellen Lebenspläne anzu- passen haben:

Wenn es das Anlie- gen der Aufklärung war, die Menschen aus selbstverschulde- ter Unmündigkeit zu befreien und sie ge- gen Abhängigkeiten von der Natur zu immunisieren, so hat die Ökonomie, und mit ihr auch die davon abhängige Politik, dieses Ziel nicht nur verfehlt, sondern in mancher Hinsicht das exakte Ge- genteilbewirkt. Statt mündiger und unabhängiger zu werden, sind wir immer unmündiger und abhängi- ger geworden, von der Ökonomie und durch die Ökonomie von der Natur. In der Wirtschaft aber tritt der Ausnahmezustand zutage, der uns in die Situation manövrieren kann, in der die zweite Natur die erste zerstören muß.

Mehr schlecht als recht erfüllt die Ökonomie in den wohlgenährten Industrierevieren zwar ihre quan- titative Versorgungsaufgabe, das Maß des (sozialen und ökologischen) Unfriedens, den sie dabei stiftet, ist - national wie international - aber schier grenzenlos. Unfriede erfüllt Gefühl und Verstand der Menschen, Gesellschaften und Staaten, Um- welt und Mitwelt.

Die westlichen Wirtschaften pro- duzieren weit mehr als notwendig ist. Und dazu bedarf es weit weni- ger Arbeitskräfte als zur Verfügung stehen; an Arbeitslosigkeit, neuer Armut, physischen und psychischen Störungen sowie mannigfachen soziopolitischen Disparitäten läßt sich dies mühelos ablesen.

Die Wirkungen dieser Abhängig- keit sind potentiell, berücksichtigt man alle relevanten Implikationen, keineswegs geringer als vor der Aufklärung. Von Mündigkeit kann daher kaum die Rede sein: Sie be- schränkt sich darauf, durch Arbeit einen Beitrag zur Aufrechterhal- tung des Wirtschaftskreislaufes zu leisten. Über die Produktion und damit auch weitgehend über den Konsum entscheiden noch immer die Vormünder. Da Arbeit aber Transformation von Natur ist, die durch die verschiedenen techni- schen Fortschritte besonders effek- tiv wird, zerstört die Wirtschaft alle Lebensgrundlagen bis an die letz- ten Grenzen. Damit wird zugleich aber auch die Chance vergeben, mit einer .aufgeklärten Aufklärung' einen neuen Versuch zu beginnen.

Der ganze Widersinn unserer Wirtschaftsweise liegt darin, daß wir geradezu manisch unsere Lebensgrundlagen zerstören, statt uns mit dem Überfluß zufriedenzu- geben, den wir ohnehin schon nicht mehr zu genießen vermögen.

Die Menschheit hat sich zum Sklaven gemacht, hat sich dazu verurteilt zu zerstören, wovon sie lebt, hat sich in selbstverschuldete Unmündigkeit begeben. Die Befrei- ung, die die Wirtschaft einst bot, hat sich in die Unfreiheit des Men- schen und seiner Natur verkehrt. Ohne zwingende Not, aber auch ohne Hoffnung auf planvolle Fort- schritte, zerstört die Menschheit unter dem Gesetz der Ökonomie die Weltnatur und die Staaten weit. Soll die Aufklärung weitergeführt wer- den, so hat sie sich dem Gesetz der Ökonomie zu widersetzen. Zu wagen, weise zu sein, würde dann fordern, das Gesetz der Ökonomie zu brechen, weil sich die Gesetze der Natur nicht novellieren lassen.

Aus: „Weltnatur und Staatenwelt - Gefahren unterdemGesetzderökonomie". Von Bernd M Malunat. Verlag A. Fromm, Edition Interfrom, Osnabrück 1989.168 Seiten, Tb., öS 109,20.

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