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Wählbares Linkskartell

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Auch das Patt als Ergebnis der schwedischen Reichstagswahlen signalisiert offenkundig nicht, daß es so etwas wie eine Krise in Europa gibt. Das auch in Österreich vom Wunschdenken inspirierte Bild von der „Sackgasse“, in der die schwedischen Sozialisten stecken (so der ÖVP-Bundesparteiobmann bei einer Kundgebung am 8. September 1973 in Linz), beurteilen die Wähler anders. Da wäre doch wohl ein „Erdrutsch“ notwendig gewesen.

Zwei Sachverhalte haben die Reichstagswahlen allerdings mit aller Klarheit aufgezeigt:

•Persönlichkeiten bestimmen das Parteienbild und -Image. Die Niederlage der Liberalen steht — so meinen übereinstimmend schwedische Beobachter — nicht etwa mit der Programmatik dieser Partei, sondern mit der Parteiführung in Zusammenhang.

•Die Kommunistische Partei ist zum tragbaren Verbündeten einer demokratischen Partei geworden — die Tendenz zum „Linkskartell“ war in Schweden nicht zu übersehen.

Den sozialdemokratischen Wähler Schwedens stört es nicht mehr, wenn seine Regierung von der Gnade der KP abhängig ist. Und es mag in Schweden dem Durchschnittsbürger auch gleichgültig sein, wenn der Ministerpräsident seine innenpolitische Front dank kommunistischer Hilfe durch außenpolitische Husarenritte abdeckt. Den Preis für die (moskaufreundliche) KP-Unterstützung leistet Palme bei jeder Gelegenheit durch kräftigen Antiamerikanismus.

Abgesehen von dieser schwedischen Szenerie wird aber immer deutlicher, daß die kommunistischen Parteien in Europa, ja weitgehend auch in der ganzen Welt — dank der Entspannungspolitik des Kremls zu akzeptablen Bundesgenossen — vornehmlich gemäßigter linker Parteien werden. Die Schwedenwahl hat das nur neuerlich bestätigt: der vielleicht langfristig für Moskau wichtigste Nebeneffekt der Entspannungsstrate-gie kann die europäischen Bruderparteien in entscheidende politische Schlüsselpositionen bringen — da und dort auch in die Regierung.

Diese Entwicklungstendenz wurde schon deutlich in der Volksfront — zwischen Marchaas und Mitterrand —, die trotz Spannungen noch immer hält und möglicherweise bei den kommenden Wahlgängen in Frankreich noch erfolgreicher sein wird als im März dieses Jahres. Da ist auch die italienische Szene: Generalsekretär Berlinguer steuert in Rom einen butterweichen Kurs für seine KPI — mit dem Ziel, die geschundenen und abgegriffenen Regierungsparteien zu geeigneter Stunde zu beerben —, dann aber sicherlich im Rahmen eines Links-Links-Kabinetts zusammen mit den Sozialisten (und eventuell dissidenten linken Christdemokraten).

Und in Deutschland? Wer die Entwicklung innerhalb der SPD in den letzten Monaten verfolgt, kann unschwer den Druck erkennen, dem Willy Brandt und der Großteil der sozialdemokratischen Parteiführung durch die Jungsozialisten ausgesetzt sind; und wer die Entwicklung der JUSOs, die Tendenzen an den Hochschulen und die Bewegungen innerhalb der „Neuen Linken“ beobachtet, dem kann nicht verborgen bleiben, daß ein deutlicher Trend direkt zur KPD geht; trotz aller Unübersichtlichkeit der Fraktionierung und Splitterung scheint die kompakte Parteihierarchie der KP auf Neulinke Faszination auszuüben.

Linkskartelle, Volksfront und mögliche KP-Unterwanderung sozialdemokratischer Parteien: das ist zweifellos ein Bild der jüngsten Szene, der die bürgerlich-konservativ-christdemokratischen Parteien nichts Rechtes entgegenstellen können. Ihre Zerfaserung resultiert nicht nur aus ideologischen Gründen — sondern aus unterschiedlichen Interessenbindungen, Rücksichten und Vorsichten. Ihre Homogenität schwindet ange^ sichts der Religionsferne der modernen europäischen Gesellschaften und angesichts des Suchens nach Erfolgsrezepten in den Hufspuren sozialdemokratischer Vorreiter: Noch mehr Sozialpolitik — noch mehr Wohlfahrt? Da geht man als Wähler doch lieber gleich zu den Sozialisten.

Bleibt die Sicherung, Garantie und das Bekenntnis zu Rechtsstaat, Menschenrecht und (christlicher) Gerechtigkeit. Aber wo sind die rechten Verteidiger der Menschenrechte angesichts der bekannten sowjetischen Ereignisse? Wir finden sie gerade wiederum in den sozialistischen Bewegungen, ob sie nun Bruno Kreisky, Günter Grass oder Heinrich Boll heißen. Aus Paris, Washington oder London mußte man bislang vergebens den dramatischen Appell in Richtung Moskau erwarten.

Die schwedischen Reichstagswahlen haben aber noch ein weiteres gelehrt: die Tatsache nämlich, daß der Wohlstandsbürger im Sozialstaat nicht vorweg die Hybris, sondern nach wie vor den Individualschutz vor den Fährnissen des Lebens sieht.

Und eine solche Erkenntnis muß vor allein in jenen Ländern einsichtig werden, die erst in einigen Jahren, vielleicht Jahrzehnten, Schwedens Sozialprodukt erreichen. Die Nasenlänge oder mehr, die hier sozialdemokratische Bewegungen voraus haben, mag für das Verhalten „bürgerlicher“ Parteien von Interesse sein.

Wo ist also die Speerspitze gegen die Sozialdemokratie? Im Nachlaufen (Überholen) progressiver Gesellschaftsveränderungen in Richtung Sozialstaat — oder in der sterilen Bremsung des Prozesses?

Man geht nicht fehl, die Chancen in jenen Bereichen zu orten, die vom Sozialstaat nicht erfüllt werden: in der Sicherung der individuellen Freiheitsräume, der nicht nur materiellen Ausgestaltung des Begriffes „Lebensqualität“, in der Erziehung zu humanen Lebensformen im sozio-kulturellen Bereich. Schlechthin maßgeblich aber wird es sein, ob die nichtsozialistischen Bewegungen aus ihrem Reservoir wiederum Führungseliten entwickeln können; Persönlichkeiten, die Ethos und Sachkenntnis zu vereinen wissen und progressiv nicht im Sinne jener Radfahrer sind, die sich aufs Rad setzen, ohne zu wissen, wohin die Reise geht.

Führungseliten: das Wort ist mißverständlich — weil es Führungsanspruch inkludiert. Solange — wie heute in Europa und den USA — die junge Intelligenz freilich links steht, wird sich da nicht allzu schnell etwas filtern lassen. Man geht nicht fehl, den NichtSozialisten nur dann eine Chance einzuräumen, wenn man meint, daß Jugendpolitik — eine Beschäftigung mit der Welt der Jugend — am allerdringlichsten ist. Und deshalb: wer nicht weiß, wie die Jungen denken, was sie bewegt und bedrückt, wird in Zukunft nicht gewinnen.

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