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Wähler wollen Strukturreformen, aber keine „versteckte“ Revolution

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Nur noch Wochen hat man in Frankreich zu zählen, bis jenes Ereignis eintritt, das - wie immer es auch ausgeht - den Staat und die Nation mit neuen innenpolitischen Verhältnissen konfrontieren wird. Obwohl gerade zu Beginn des Jahres Frankreich durch einige Affären erschüttert wurde, etwa die Entführung des belgischen Großindustriellen Em-pain, richten sich doch alle Blicke auf jene Männer, der politischen Bühne in Paris, die die „gute Botschaft vom irdischen Paradies“ verkünden.

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Nur noch Wochen hat man in Frankreich zu zählen, bis jenes Ereignis eintritt, das - wie immer es auch ausgeht - den Staat und die Nation mit neuen innenpolitischen Verhältnissen konfrontieren wird. Obwohl gerade zu Beginn des Jahres Frankreich durch einige Affären erschüttert wurde, etwa die Entführung des belgischen Großindustriellen Em-pain, richten sich doch alle Blicke auf jene Männer, der politischen Bühne in Paris, die die „gute Botschaft vom irdischen Paradies“ verkünden.

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Innenpolitische Experten, berühmte Politologen und Journalisten interpretieren jede Geste und jedes Wort der Politiker, um dann zum Thema Wahlausgang neue Kommentare zu verfassen und eventuell Trends herauszukristallisieren. Niemals zuvor wurden derartig massive Propagandamethoden und -mittel eingesetzt, wie zu Beginn dieser Kampagne. Es besteht durchaus die Gefahr, daß die westliche Welt in Frankreich schneller den Historischen Kompromiß verwirklicht sehen wird als in Italien.

Nachdem die Souveränität des Staates von der Nation ausgeht, muß die erste Frage heißen: Wie reagieren die Bürger auf die Versprechungen und D rohungen, die Tag fü r Tag in den Zeitungen ihren Niederschlag finden, und auf die Reden und Erklärungen der Parteichefs, die mehr und mehr die Bildschirme des französischen Fernsehens beherrschen?

Bisher haben alle demoskopischen Umfragen- und es gab deren viele - zu einem Ergebnis geführt, das praktisch nicht variiert: Dem zufolge sind die Linksparteien im Vormarsch, werden die bisherige Präsidentenmehrheit überrollen und zwischen 52 bis 54 Prozent der Stimmen erhalten. Die schwere Krise, der Linksunion, die seit September 1977 anhält und zur Trennung von Kommunisten und Sozialisten führte, hat demnach die Wähler nicht so erregt, daß sie wieder zu den Mittelparteien oder zur gaullistischen Sammelbewegung zurückkehren würden.

Eines ist trotzdem sicher: Die weitaus größere Mehrheit der Bürger will unter keinen Umständen eine sozialistische Gesellschaftsordnung, wie sie in den • europäischen Oststaaten am Ende des Krieges installiert worden war. Die Bevölkerung ist vielmehr vom Slogan der Linksparteien - „20 Jahre genügen“ - beeinflußt. Seitdem General De Gaulle im Jahre 1958 die jetzige Verfassung- einführte, fanden mehrere Wahlen statt, die jedoch das Primat seiner Position nur zementierten. Jetzt ist aber das Regime so bedroht, wie niemals zuvor. Will man den Wählerwillen also analysieren, so lautet er, auf eine einfache Formel gebracht: Wir wollen grundsätzliche Reformen in den Strukturen von Staat und Gesellschaft, unter keinen Umständen jedoch eine Revolution, wie sie - natürlich versteckt - die kommunistische Partei ihren Anhängern verspricht.

Seitdem die Version aufgetaucht ist, daß die Linke trotz ihrer Streitereien die Macht im Staat und die Mehrheit im Parlament erhalten könnte, sind innenpolitische Spekulationen an der Tagesordnung. Was etwa wird der jetzige Staatschef unternehmen, falls der Chef der siegreichen Opposition, Francois Mitterand, ihm die Ministerliste eines Linkskabinetts zur Bestätigung vorlegt?

Noch im Jänner dieses Jahres hat Giscard d'Estaing in einer seiner wohl besten Reden vor 20.000 begeisterten Zuhörern erklärt, daß er unter allen Umständen sein Mandat von sieben Jahren bis zum Ende erfüllen wird. Die Verfasser des jetzigen Grundgesetzes gestehen ein, niemals mit der Möglichkeit gerechnet zu haben, daß ein Staatsoberhaupt, das aus der gaullistisch-bürgerlichen Mitte stammt, mit einem Parlament arbeiten muß, das mehrheitlich von Kommunisten, Sozialisten und Radikalsozialisten beherrscht wird.

Allerdings besitzt Giscard d'Estaing gewisse Prärogativen, die aber weniger schwer wiegen, als man Jahre hindurch angenommen hat. Die Verfassungsrechtsexperten beschäftigen sich hauptsächlich mit der Interpretation des Artikels 16 der Verfassung, der dem Staatschef in Krisenzeiten außergewöhnliche Vollmachten einräumt. Aber selbst General De Gaulle hat in den turbulenten Tagen des Mai 1968 nicht ernsthaft daran gedacht, diesen Weg zu ergreifen, um sich mit größter Machtfülle vor der Nation zu präsentieren.

Aus der schon zitierten Rede Giscard d'Estaings konnte man entnehmen, daß er nicht imstande ist, die Verwirklichung des gemeinsamen Programmes der Linken zu verhindern. Jeder Kenner der Materie muß zugeben, daß dieses gemeinsame Programm aus dem Jahre 1972 unweigerlich zu einer Gesellschaftsordnung kollektivistischer Natur führen muß. Gerade das wollen die Kommunisten auch, die den Wahlkampf immer brutaler und mit einem Aufgebot an Menschen und Material führen, wie es in diesem Umfang selbst den Regierungsparteien nicht zur Verfügung steht.

Aber nicht nur das gemeinsame Programm soll realisiert werden: Die kommunistische Partei stellt energisch die Forderung, daß in einem Linkskabinett eine Anzahl von Kommunisten vertreten sein müßte, die gleiche Rechte und Pflichten wie ihre Kollegen aus der sozialistischen oder radikalsozialistischen Partei haben sollten. Es sei daran erinnert, daß Mitterand bereits im Jahre 1974 der KPF mindestens sieben Minister versprochen hatte. Dem Vernehmen nach soll sich Marchais selbstverständlich nicht mit einigen untergeordneten Positionen zufrieden geben. So hat die KPF schon früher den Anspruch auf das Innenministerium erhoben, oder gefordert, daß diese Institution geteilt und ihr die Hälfte der Aufgabengebiete zugeteilt werden sollte. Derselbe Prozeß soll also in Gang gesetzt werden, der nach dem Krieg auch in Ungarn und de r Tschechoslowakei zur totalen Machtergreifung der Kommunisten geführt hat.

Falls die Linksparteien nicht den Sieg davontragen, ist die Gefahr von Zersetzungserscheinungen innerhalb der sozialistischen Partei größer, als bei der disziplinierten, weil straff organisierten KPF. Denn Marchais ist überzeugt: Falls es diesmal nicht gelingt, die Mehrheit zu erreichen, gelingt es bestimmt in zwei oder drei Jahren. Die kommunistische Partei Frankreichs ist allerdings noch weniger als die Sozialisten geneigt, die Vorrechte des Staatspräsidenten unangetastet zu lassen. Man kann sicher sein, daß im Fall eines linken Wahlsieges die Position des Staatsoberhauptes sorgfältig überprüft wird, um es ihm unmöglich zu machen, die Geschicke des Landes direkt zu leiten. In diesem Punkt treffen sich aller Erwartungen oder Enttäuschungen und Giscard d'Estaing wird zeigen müssen, ob er mit diesen großen Schwierigkeiten fertig werden wird und dem französischen Volk weiterhin als eine Art Leuchttum zur Verfügung steht.

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