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Waggonproblem
Betrachtet man die Kulturge- schichte der Minderheiten in der Monarchie, fällt auf, daß die Natio- nalitäten nicht für sich selbst, son- dern nur im Kampf gegen das un- garische und österreichische Über- gewicht existieren konnten. Diese zwei Nationen erscheinen in der slowakischen, kroatischen und slo- wenischen Literatur als dekadente, zum Tode verurteilte Völker, ihre Hauptstädte, Wien und Budapest, als Sündenbabel, gegen die die Schriftsteller ihre jungen, gesun- den Völker verteidigen mußten.
Diese Ansicht hinderte aber 1919 die tschechoslowakische, rumäni- sche und jugoslawische Regierung nicht, von Ungarn und Österreich große Gebiete mit mehreren Milli- onen Ungarn und Zigtausenden Österreichern abzuschneiden. Mit- tel-Europa also, das der ungarische Politiker Oszkär Jäszi der starken Nationalitätenproblematik wegen eine „Gewitterzone" nannte, blieb damit auch nach dem Ersten Welt- krieg ein Pulverfaß, obwohl mit dem Entstehen der jungen Nationalstaa- ten die Zahl der Minderheitenbe- völkerung in Mittel-Europa von 60 Millionen auf 20 Millionen absank.
Nach Angaben von Volkszählun- gen 1930 bildeten die Minderheiten in dieser Region noch i^imer eine große Gruppe: in Polen gehörten 31 Prozent, in der Tschechoslowakei 34, in Rumänien 28, in Jugoslawien 15 und in Ungarn 8 Prozent der Be- völkerung zu sogenannten Minder- heiten. Deshalb versuchten die Na- tionalstaaten zwischen den Welt^ kriegen eine Assimilation der Min- derheiten; und dieses Bestreben wandelte sich in der Zeit des Krie- ges sowie in der Nachkriegszeit zur Verfolgung,, sogar zur Vernichtung der Nationalitäten. Mit dem Vor- dringen Sowjetrußlands kam auch Stalins Ansicht zur Geltung, wo- nach das „Nationalitätenproblem nur ein Waggonproblem" sei.
Obwohl nach 1919 ein ohnmäch- tiger Nationalismus und Revisio- nismus in Ungarn tobte, kam es nicht zur systematischen Verfol- gung von Minderheiten im Tria- non-Land. Minderheiten konnten in der Zwischenkriegsepoche Zei- tungen und Bücher für ihre Bedürf- nisse herausgeben, ihre kulturellen und muttersprachlichen Traditio- nen pflegen, in den heutigen Gren- zen des Landes sank die Zahl der Minderheiten infolge von Indu- strialisierung und Urbanisation des Staates um sieben Prozent.
Zu einer drastischen Abnahme der Zahl der Ungarndeutschen kam es erst 1939, als Hitler die Aussied- lung der Volksdeutschen anordne- te: 85.000 Ungarndeutsche verlie- ßen das Land. Die zweite große Völkerwanderung der Ungarndeut- schen verursachte das Potsdamer Abkommen, in dessen Rahmen 170.000 Deutsche den Staat verlie- ßen. Im Rahmen des Bevölkerungs- austausches, den die tschechoslo- wakische Regierung erzwang, ver- ließen 1946 bis 1948 73.273 Slo- waken Ungarn.
Zwischen Ungarndeutschen und Ungarnslowaken verbreitete sich die Angst vor der Deportation, sodaß 1949 nur 22.455 Deutsche und 25.988 Slowaken ihre Natio- nalitätszugehörigkeit bekannten. Ihrem Schicksal konnten auch weder Kroaten noch Serben entge- hen: In den fünfziger Jahren wur- den sie vom Generalsekretär der kommunistischen Partei, Mätyäs Räkosi, der Tito, den jugoslawi- schen Parteichef, einen „Ketten- hund des Westens" nannte, als „jugoslawische Agenten" in Lager deportiert, wie die Gulyäs-Brüder in ihrem Dokumentarfilm so er- schütternd darstellten.
Das Entstehen der Nationalitä- tenbünde in Ungarn spiegelte die Kräfteverhältnisse der Großmäch- te im Donauraum wieder. Als erster Bund wurde 1945 die Front der an- tifaschistischen Slawen gegründet. Aus dieser „panslawischen" Front schieden 1945 die Südslawen aus, die ihren eigenen Verband gründe- ten. Die Slowaken und Rumänen riefen ihre Bünde 1949 ins Leben. Die Deutschen bekamen erst 1955 die Möglichkeit, einen eigenen Ver- band zu gründen, und zwar mit der Einschränkung, daß er sich nicht mit Politik beschäftigen dürfe.
Erst nach 1960 konnte man in Ungarn von Ent- spannung sprechen, und in dieser Atmo- sphäre nahm die Zahl der Minder- heitsbekenntnisse um 42,2 Prozent zu. Die Statistik weist 1960 in Ungarn 50.765 Deutsche, 30.690 Slowaken, 37.839 Südslawen und 15.787 Rumä- nen aus. Die Natio- nalitätenverbände anerkannten je- doch diese offiziel- len Zahlen der Sta- tistik nicht. Nach ihrer Schätzung gibt es in Ungarn bis heute etwa 200.000 Deutsche, 100.000 Slowaken, 100.000 Südslawen und 20.000 Rumä- nen.
Erst ab 1968 be- gann die richtige Entwicklung des Nationalitäten- lebens und der Na- tional itätenfor- schung in Ungarn.
Stufenweise wurden ein Schul- und Bibliotheken- netz für die Minder- heiten entwickelt.
Manche Fachleu- te sind der Mei- nung, daß diese Än- derungen der Min- derheitenpolitik in Ungarn zu spät gekommen seien, weil die Nationali- täten schon assimi- liert worden seien. Die Nachbarländer hingegen sehen in diesen Umwälzun- gen Hinterge- danken Ungarns, um damit eine Ver- besserung der Lage der magyarischen Minderheit in den anderen Ländern zu erreichen.
Ob es zu solchen Veränderungen auch in den Nach- barländern kom- men wird, ist noch fraglich (siehe Sei- te 14), aber es wür- de zur Verbesse- rung der Lage der Minderheiten in ganz Europa bei- tragen.
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