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WAHREND DIE KAMERADEN STARBEN

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Weihnachten 1942. Das Wehrmachts-Lazarett in Tscherkessk im Nordkaukasus - dem ehemaligen Batalpa-schinsk, dem Hauptort des Autonomen Gebietes der Tscherkessen und Karatschaier - ist vorwiegend mit Gelbsuchtkranken belegt. Die Hepatitis grassiert unter den Truppen, die die Höhen und Hänge des Kaukasus halten. Strenge Milchdiät - nicht gerade das Weihnachtsessen, von dem wir geträumt hätten. Aber wer träumt schon vom Essen, wenn die Leber schmerzt und jeder Gedanke an Essen Übelkeit erzeugt? Die strenge Bettruhe im sauberen Krankensaal läßt die Strapazen des Gebirgskriegs versinken - und sie lockert das gespannte Lauern auf den Wehrmachtsbericht, der doch nie erzählt, wie es im eigenen Frontabschnitt wirklich zugeht. Und der nur in heldenhaften Phrasen andeutet, daß 1.500 Kilometer weiter nordostwärts die Katastrophe von Stalingrad ihrem Ende zugeht...

Längst war der Plan gescheitert, über die Berge nach Georgien vorzustoßen und die Ölquellen des Transkaukasus, die Ölhäfen am Schwarzen Meer, in die Hand zu bekommen.

Was liefen doch damals für tolle Gerüchte um über Hitlers Absichten? An die türkische Grenze vorzustoßen, um die Türkei auf die deutsche Seite zu ziehen, oder mit Rommels Afrikakorps über Persien und den Irak Verbindung aufzunehmen, um Engländer und Amerikaner aus dem Nahen Osten zu vertreiben...

Dazu sollten motorisierte Verbände über Noworossijsk angreifen und Tuapse einnehmen, Hochgebirgsein-heiten gleichzeitig über den Kluchor-paß in fast 3.000 Metern Höhe und die Suchumsche Heerstraße nach Suchu-mi und damit wieder an die Küste gelangen.

Zwanzig Kilometer vor Suchumi, fünfzig Kilometer vor Tuapse blieben beide Angriffsspitzen liegen. Der Nachschub kam nicht nach, der Widerstand war zu heftig. Die Sowjets rüsteten sich zum Gegenschlag.

In diesen Wochen hatte die 6. Armee Stalingrad eingeschlossen. Während die Südfront im Kaukasus ins Stekken geriet und nach frühem Wintereinbruch nur mehr unter schwersten Verlusten verteidigt werden konnte, schien an der Wolga Hitlers Planung aufzugehen - trotz aller Warnungen seiner Generäle. Anfang November waren neunzig Prozent der Stadt und ihrer Anlagen in deutscher Hand. Dann aber begann der Gegenstoß der Roten Armee...

Wie verging der Heilige Abend, der Weihnachtstag? Die Erinnerung ist verflogen. Post von zu Hause, wenn sie überhaupt durchkam, war Wochen alt, ging noch nicht auf das Fest ein. Wir lagen und warteten.

Und doch kam der Befehl zur Räumung für uns überraschend - war es an Silvester, am Neujahrstag? Wenige Stunden später dachte niemand mehr an Bettruhe, auch wenn die Beine nach wochenlangem Liegen noch zitterten, an Diät, wenn es zum ersten Mal seit Wochen wieder normales Essen aus der Feldküche gab.

Wie viele lagen in jedem einzelnen Viehwaggon, 20, vielleicht 25 Mann? Zwei Jahre später, auf der Fahrt in die Gefangenschaft, mußten sich 45 Mann zusammendrängen. Diesmal war es fast gemütlich auf den mit Stroh gepolsterten Pritschen, neben dem Kanonenofen, der Wärme

spuckte, während der Zug mit den Kranken von Tscherkessk durch das Vorgebirge, den Kuban abwärts, durch die Ebene ratterte.

Armavir, Kropotkin, Rostow - wie lange brauchte der Zug für die Strek-ke, die wir im August zu Fuß marschiert waren - 800 Kilometer in 18 Tagen? Diesmal ging es schneller -und viel zu rasch näherten wir uns Rostow, wo - wie wir meinten - sich unser Schicksal entscheiden mußte. Denn von hier waren es nur mehr 400 Kilometer nach Stalingrad...

Der Versuch, die in Stalingrad eingekesselte 6. Armee durch die Armeegruppe Hoth zu entsetzen, war kurz vor den Weihnachtstagen gescheitert. Am 9. Jänner bot Sowjetmarschall Kliment Woroschilo w dem Kommandierenden General der 6. Armee, Generaloberst Friedrich Paulus, die ehrenhafte Kapitulation aller seiner Truppen an - Paulus lehnte ab. Stalingrad band sieben sowjetische Armeen, die sonst für die Südfront freigeworden wären. Und Hitler ließ nach Stalingrad funken: „Kapitulation ausgeschlossen. Truppe verteidigt sich bis zuletzt!"...

Daß die Lage in Stalingrad verzweifelt war, daß es dem Ende zuging, das hatte sich auch bis zu uns im Lazarettzug durchgesprochen - wo-

her kamen eigentlich die Nachrichten, die nicht im Wehrmachtsbericht verlautbart wurden? Uninformiertheit, Illusionen, Ängste, Gerüchte bereiteten den Boden für ein Gewirr von Aussagen, von denen niemand zu sagen vermochte, was von ihnen Dichtung und was Wahrheit war.

Aber eines war uns allen klar: Unsere Gelbsucht wäre kein Hindernis gewesen, uns in Rostow auszuladen, in Alarmkompanien zu sammeln und uns nach Stalingrad einzufliegen. Um verheizt zu werden, wären wir gesund genug gewesen...

Wann kamen wir durch Rostow? War es schon vorbei, als der Kompaß anmerkte, daß der Zug nach Westen fuhr? Das konnte noch eine Biegung der Strecke sein. Aber der Zug fuhr

und fuhr und fuhr. Rascher als auf der ganzen Strecke bisher, als pressierte es auch den Eisenbahnern, möglichst schnell aus der gefährlichen Gegend zu entkommen.

Als er endlich hielt, zeigte das Bahnhofsschild „Dnjepropetrowsk". Aussteigen, zur Entlausung, ein, zwei Tage in den sauberen Betten eines Durchgangslazaretts - hatte sich das Schicksal schon für uns entschieden? Ganz konnten wir es noch nicht glauben. Bei aller Schäkerei mit den Krankenschwestern klang noch ein Hauch von Unsicherheit, von Angst mit. Zu oft hatten wir schon erlebt, daß auf einen Befehl der Gegenbefehl erfolgt war - und der hatte meist nichts Gutes gebracht. Und Stalingrad lag auch von hier aus nur etwa 800 Kilometer entfernt...

Endlich ging es weiter, nun schon Personenwagen, sechs Mann im Abteil - wer dachte von uns noch daran, daß wir vor wenigen Wochen noch zu strenger Bettruhe im Lazarett von Tscherkessk bestimmt gewesen waren?

Neue Entlausung, neuer Aufenthalt in Krakau. Seit sich der Zug von Dnjepropetrowsk wieder in Bewegung gesetzt hatte, fürchteten nur mehr notorische Pessimisten, wir könnten wieder umdrehen.

Endlich Endziel im Standortlazarett in Gera in Thüringen -wie weit lag nun der Kaukasus von uns entfernt? Nicht so sehr die paar tausend

Kilometer Luftlinie schoben sich zwischen uns und die Kameraden, die in Stalingrad zugrunde gingen, oder jene in unseren Einheiten, die noch den Brückenkopf am Kuban hielten. Der Selbsterhaltungstrieb mochte wohl bei jedem von uns den Gedanken lebendig werden lassen: „Gott sei Dank, daß nicht ich noch dort bin!" Am 30. Jänner 1943.

An diesem 30. Jänner 1943 hielt Reichsmarschall Hermann Göring die Festrede zum zehnten Jahrestag der national-sozialistischen Machtergreifung, in der er die Schlacht um Stalingrad den „größten Heroenkampf unserer Geschichte" nannte. „Die Kämpfer von Stalingrad mußten stehen, das Gesetz befahl es so, das Gesetz der Ehre und der Kriegsführung!"

Das hörten auch die Stäbe im Kessel von Stalingrad. General Karl Strek-ker, Kommandeur des XI. Armeekorps, ließ zurückfunken: „Vorzeitige Leichenreden unerwünscht!"

Am 2. Februar war das Drama von Stalingrad zu Ende. Im Dezember lagen noch 230.000 Deutsche und Verbündete im Kessel, darunter 13.000 Rumänen. 34.000 Verwundete und Kranke wurden ausgeflogen, gegen 17.000, die vor der Kapitulation nicht mehr geborgen werden konnten, blieben auf den Schlachtfeldern zurück. Stalin gab am 7. November 1943 bekannt, daß im Großraum Stalingrad 154.600 deutsche Gefallene gesammelt und verbrannt worden waren.

Von den 91.000 Überlebenden.in sowjetischer Gefangenschaft ging die Hälfte im Frühjahr in den Sammellagern Beketowka, Krasnoarmeijsk und Frolow am Fleckfieber zugrunde, Tausende waren schon auf dem Weg dorthin entkräftet im Schnee liegen geblieben. Nur 6.000 Stalingrader kamen nach Kriegsschluß in die Heimat zurück...

Im Standortlazarett Gera hörten wir nur die verlogenen Phrasen der Propagandisten, erfuhren wir nichts vom Schicksal der Kameraden. Und selbst wer zu diesem Zeitpunkt noch an den Endsieg geglaubt hatte, mußte erkennen, daß der Krieg so nicht gewonnen werden konnte.

Was aber niemanden in der Führung abhielt, uns nach ein paar Wochen Erholungsurlaub wieder hinauszuschicken, in die zusammenbrechende Ostfront oder in den Partisanenkrieg auf dem Balkan.

Zweieinhalb Jahre nach dem Ende des Kessels von Stalingrad kamen sie wieder, Zehntausende Deutsche, Österreicher, Rumänen, Italiener, nun als Vojennoplennije, Kriegsgefangene, die wieder gutmachen sollten, was der Krieg zerstört hatte. Neben ihnen Tausende Sowjetbürger, Saklutschon-nije, Strafgefangene, die mit den Deutschen zusammengearbeitet hatten - es genügte schon, im besetzten Gebiet nicht zu den Partisanen gegangen zu sein -, und nun „umerzogen" werden sollten.

Sie bauten die Stadt an der Wolga wieder auf, die Fabriken, die während der Schlacht so hart umkämpft worden waren. Sie bauten den Wolga-Don-Kanal, den ersten der „fünf Großbauten des Kommunismus", der am zehnten Jahrestag des Beginns der Schlacht um Stalingrad seiner Bestimmung übergeben wurde. Noch von Stalin, der einst, 1919, im Bürgerkrieg die Stadt erfolgreich gegen den zaristischen General Anton Deni-kin verteidigt hatte, weswegen sie seinen Namen erhalten hatte.

Drei Jahre nach Stalins Tod wurde Stalingrad, das einstige Zarzizyn, in Wolgograd umbenannt.

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