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Wahrheit kann nicht schaden

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Es rauscht mächtig seit einiger Zeit im ungarischen Blätterwald. Maulkorb und Scheuklappen gelten als Requisiten einer unseligen Vergangenheit.

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Es rauscht mächtig seit einiger Zeit im ungarischen Blätterwald. Maulkorb und Scheuklappen gelten als Requisiten einer unseligen Vergangenheit.

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Kritik der Vergangenheit ist in Ungarns Presse heute angesagt. Mutig kritisieren jetzt auch jene, die seit Jahrzehnten ergebenst an dieser Vergangenheit mitgebaut haben.

Doch die Zeiten haben sich verändert. Die staatliche Presse muß sich mittlerweile auch verkaufen können. Angesichts der Demokratisierung und der damit aufkommenden Konkurrenz ist dies das Gebot der Stimde.

Da ist gleich das Parteiblatt „Nėpszabadsag“, das trotz der vor kurzem durchgeführten redaktionellen Umbesetzungen noch weit davon entfernt ist, sich als Tageszeitung einer reformkommunistischen Volkspartei zu profilieren. In der Parteizentrale, dem Budapester „Weißen Haus“, wird aber schon am Konzept eines ,4eserna-hen“ Tagblattes gearbeitet, das in Zusammenarbeit mit jener AG erscheinen soll, an der auch der deutsche Springer-Verlag beteiligt ist.

Warum auch nicht, wenn der Parteiverlag Kossuth längst Aktieninhaber bei der gleichen Gesellschaft ist?

Trotz pointiert unparteiischer Berichterstattung und Beiträge steht es um die Zukunft des Blattes der Patriotischen Volksfront „Magyar Nemzet“ schlecht. Der Inhaber liegt nämlich als einer der überflüssigsten Reste des spätstalinistischen Systems inmitten des sich entfaltenden Pluralismus heillos darnieder.

Eine künftige Koalitionsregierun» wird auch den Werdegang des zweifellos höchst informativ gewordenen Regienmgsblattes „Magyar Hirlap“ in eine vollkommen neue Richtung lenken. In den Redaktionen wird sorgfältig sondiert. Die Journalisten sind in Bewegung. Neue Stellen werden gesucht, alte gefestigt. Wie es heißt, soll jetzt auch die Wahrheit geschrieben werden, schaden kann sie ja nicht mehr - im Gegenteil.

Mittlerweile meldet sich auch die Konkurrenz zu Wort. Die ebenfalls unter Springer-Mitwirkung erscheinende Abendzeitimg „Mai nap“ hat ihre Garde von Abgeworbenen oder Abgesprungenen bereits zusammengestellt.

Das seit Herbst vorigen Jahres herausgegebene Springer-nahe Magazin „leform“, ein mit rotweiß-grünem Bändchen gesäumtes Politklatschblatt mit einem leichten Hang zur Softpomogra-phie, ergeht sich mit Vorliebe in Enthüllungen. Geschont werden da weder die UdSSR noch die verschiedenen Parteien mit ihren jüngsten Spaltungen - einschließlich der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei USAP.

Seriöseres bietet dagegen die als unabhängig markierte staatliche Monatszeitschrift „Kapu“ mit ihren zeitgeschichtlichen Analysen und Dokumentationen. Das Organ hat zum Beispiel als erstes in Ungarn die Liste der nach 1956 Hingerichteten veröffentlicht.

Das zweiwöchentlich erscheinende Magazin .Jlitel“ ist schon längst zum Spradirohr des Forums Ungarischer Demokraten geworden. Anstelle der Literatur dominieren da Programme und Entwürfe der Organisation oder aber endlose Beiträge über die Lage in Rumänien. Trotz der tragischen

Substanz ist dieses Thema der Öffentlichkeit bereits sehr gut bekannt - dafür sorgen auch die staatlichen Organe.

Die neuen Parteien träumen einstweilen nur von Zeitungsgründungen. Sie warten ab, begnügen sich mit der Herausgabe von Broschüren.

Funk und Fernsehen behaupten in Ungarn felsenfest ihre Position - und zwar nach wie vor unter staatlicher Aufsicht, das heißt heute unter Lenkung der Reformkommunisten.

Die Frage, ob das den Normen der Rechtsstaatlichkeit entspricht, ist freilich berechtigt. Fest steht allerdings, daß diese Medien in letzter Zeit auch erhebliche Fortschritte gemacht haben.

Einst stets als „Oppositionelle“ gemaßregelte Mitarbeiter sind rasch rehabilitiert und in die vorderste Linie geschoben worden. Nun dürfen sie alles nachholen.

Das dadurch entstehende aufgeschlossene und ab und zu fast schon liberal wirkende Profil von Funk und Fernsehen wird auch noch von jenen Altstars für alle Jahreszeiten verstärkt, die von gestrigen Koryphäen des Kddär-Regimes zu aggressiven Demokraten der Gegenwart geworden sind. tJber Nacht, versteht sich.

Die heroische Zeit für die Sa-misdat-Blätter ist allerdings vorbei. Die meisten professionellen Autoren publizieren bereits in den etablierten Organen, und was da am Stab noch übrig blieb, reicht gerade für die Zusammenstellung von Vereinsnachrichten.

Doch das ändert nichts an der Tatsache, daß die Samisdat-Blät-ter lange Zeit einen unentbehrlichen Beitrag zur Demokratisie-nmg geleistet haben.

Ungarns Presse ist freilich noch weit’ davon entfernt, als demokratisch bezeichnet werden zu können. Ansätze dazu sind aber vorhanden und werden von der täglichen Entwicklung des Emanzipationsprozesses gefördert.

Es ist allerdings nicht leicht, sich daran zu gewöhnen, daß dieser Prozeß in der Presse gerade von jenen am massivsten vorangetrieben wird, die ihn bis vor kurzem noch mit Lügen und Manipulationen aufgehalten haben.

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