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Wallfahrten und Wunderheilungen

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Wallfahrten sind wieder im Kommen, auch als Thema für die Forschung. Die Erkenntnis, daß es Orte der Gnade gibt, geht über echte oder angebliche Wunder weit hinaus.

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Wallfahrten sind wieder im Kommen, auch als Thema für die Forschung. Die Erkenntnis, daß es Orte der Gnade gibt, geht über echte oder angebliche Wunder weit hinaus.

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Was eifrige Priester einst in den sogenannten „Mirakelbüchern“ als wunderbare Gebetserhörung aufgezeichnet haben, entpuppt sich heute immerhin als außerordentlich aufschlußreiche Lektüre. Man erfährt eine Menge darüber, wie die Menschen, um deren Schicksale es hier geht, gelebt haben, was sie dachten, worin ihre Sorgen bestanden, wie es um ihre Gesundheit bestellt war. Erstmals wurden jetzt in Zusammenhang mit der bis 19. Oktober im Salzburger Dommuseum laufenden Ausstellung „Salzburgs Wallfahrten in Kult und Brauch“ (FURCHE 21/1986) die in der Erzdiözese an 16 Orten erhaltenen „Wunderbücher“ genauer untersucht und im Ausstellungskatalog veröffentlicht.

Völlig neu dabei: der Salzburger Pathologe Josef Thurner durchforstete die teils im Originalmanuskript, teils in zeitgenössischen Drucken vorliegenden Aufzeichnungen (die meisten davon aus dem 17. und 18. Jahrhundert) aus der Sicht des Mediziners. Bei rund zehn Prozent der über 6.000 Berichte über wunderbare Gebetserhörungen fand er so genaue Beschreibungen von Krankheitsverlauf und eingetretener Besserung, daß er im nachhinein eine Diagnose stellen und den Heilungsprozeß erklären konnte.

Dabei stellte sich heraus: In gar nicht so wenigen Fällen leitet schon das Sich-auf-den-Weg-Machen zu einem heiligen Ort eine Besserung des Leidens ein. Ganz deutlich ist das beispielsweise bei jener Frau aus Westeh-dorf (Tirol), deren monatelang bestehendes Unterschenkelgeschwür im Gefolge einer Wallfahrt nach Maria Kirchenthal, gelegen in einem Hochtal bei Lofer (Salzburg), abzuheilen beginnt.

Thurner erklärt das so: Durch die in dem Bericht geschilderte Anstrengung und Durchnässung während der Reise wurde eine verstärkte Blutzirkulation im kranken Bein bewirkt und der Heilungsprozeß in Gang gesetzt. Eine andere Frau wurde durch Hinwerfen vor dem Gnadenbild in Kitzbühel (Tirol, Erzdiözese Salzburg) von einer sehr schmerzhaften Gelenksluxation befreit. Durch die ungewöhnliche Bewegung renkte sich das Bein mit einem „Schnaltz“ von selbst wieder ein.

Oftmals ist es auch die emotionelle Umstimmung, die Mobilisierung aller seelischen und körperlichen Kräfte während einer Wallfahrt — bewirkt durch Gebete und Segnungen, durch das Auflegen wundertätiger Gegenstände wie etwa des Vitalis-Gürtels am St.-Vitalis-Grab im Stift St. Peter (Salzburg), durch das Tragen von Andachtsbildern, Amuletten, Fraisenketten —, die die Besserung des Gesundheitszustandes des Betroffenen herbeiführt. So geschehen etwa bei einer Frau, die an einer Scheinschwangerschaft litt und sich aus diesem GrUnd in Maria Kirchenthal „benedicie-ren“ ließ.

Ein anderes Beispiel: eine „Manns-Persohn“, die lange Zeit an „Dörrsuecht tödtlich kranck lag“ und dann 1697 durch eine Wallfahrt zum Gnadenaltar des Loretokindls (heute stellt Maria Loreto den einzigen noch bedeutsamen Wallfahrtsort in der Stadt Salzburg dar, zu Mozarts Zeiten gab es hier 37, im ganzen Land über 50 solche heilige Orte) wunderbar geheilt wurde. Eine psychische Beeinflussung einer Tuberkulose — um diese dürfte es sich nach Meinung von Thurner handeln — ist nach Aussagen von Lungenspezialisten durchaus möglich.

Beispiele für derartige Fälle von Gesundung Schwerkranker durch eine Veränderung ihrer Seelenlage finden sich in den untersuchten Mirakelbüchern noch oft: ob es sich nun um Besserung von durch eine zyklische Depression hervorgerufenen Schlafstörungen handelt, ob um eine vom Arzt als „Blutwurm im Kopf“ diagnostizierte Dauermigräne, von der eine Frau durch eine Art medizinische Hokuspokus-Behandlung und eine Wallfahrt nach Maria Alm (Pinzgau) befreit wurde, oder um einen für die Umgebung unerklärlichen Fall von Magersucht (wahrscheinlich Anorexia nervosa), um verschiedene Formen von Psychosen und depressiver Verstimmung oder um eine verlängerte Geburt, bei welcher die psychische Beeinflussung eine Reihe biochemisch-endokriner Mechanismen und damit den Gebärvorgang in Gang setzte...

Viele in den Mirakelbüchern aufgezeichneten Wunderheilungen haben auch eine ganz einfache Erklärung. So schließen sich Nabelbrüche bei Kleinkindern in der Regel ganz von selbst. Auch bei Bruchleiden Erwachsener ist eine solche Selbstheilung durchaus „normal“. Eine - öfter geschilderte — vorübergehende Erblindung hat meist ihre Ursache in einer Sehnerventzündung, die dann ohne Behandlung wieder verschwindet. Ähnliches gilt für Gehirnerschütterungen nach Stürzen: allein das Liegen wirkt dabei heilsam. Selbst Knochenmarkseiterungen heilen nach Lösung und Abstoßung des kranken Knochenteiles oft auf natürliche Weise wieder ab.

Wo bleiben dann die Wunder, von denen die Mirakelbücher berichten?

Es wäre nun falsch, sie aufgrund der naturwissenschaftlichen Erklä-

rungsmog-lichkeiten, die unsere Zeit vielfach bereithält, einfach zu negieren.

Nicht nur, daß diese Heilungen, diese Rettungen aus großer Not, diese positiven Wendungen im Leben der Bittenden, die sie in Zusammenhang mit Wallfahrten erfuhren, für die Menschen des 17. und 18. Jahrhunderts und auch noch später tatsächlich eine wunderbare Fügung Gottes waren. Auch für uns

Salzburger Dommuseum: Genesung Heutige trägt der in den Berichten über Gebetserhörungen deutlich zutage tretende Sinnzusammenhang zwischen dem persönlichen Leben eines Menschen und einer überpersönlichen oder übernatürlichen Instanz — trotz aller naturwissenschaftlichen Erklärung - etwas Wunderbares an sich.

„Die befreiende Weise des Staunens wäre deshalb wohl die angebrachtere Reaktion als Sensationsgier und rationalistische Ungläubigkeit“ — so meint dazu Johannes Neuhardt, der Organisator der Salzburger Ausstellung und Herausgeber des mit neuen Forschungsergebnissen vollgepackten Katalogwerkes.

Staunen - das ist vermutlich auch die erste Reaktion vieler Ausstellungsbesucher, die ins Salzburser Dommuseum kommen. Soviel gläubige Hoffnung, soviel Bitte und Dank von Menschen aus allen sozialen Schichten und mehreren Jahrhunderten in Form prächtiger Rosenkränze und liebevoll gemalter Andachtsbilder, einfacher Votivgaben aus Wachs und Eisen und prächtiger Silberwerkstücke, von Gebetszetteln und Gebär-Amuletten sieht i^ian nur selten nebeneinander aufgereiht. In den 550 größtenteils auch vom Standpunkt des Kunstfreundes hochinteressanten Exponaten begegnet uns aber nicht nur eine längst verschwundene Welt. Wallfahrten sind heute wieder im Kommen. Die Sehnsucht des Menschen, an einen heiligen Ort zu gehen, um seine Sorgen loszuwerden, um Rat und Hilfe, einen Lebenssinn zu .suchen,wächst neuerdings unübersehbar.

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