6887958-1979_35_07.jpg
Digital In Arbeit

War es Hitler allein?

Werbung
Werbung
Werbung

Gesetzt den Fall, Sie würden sich auf eine Straße stellen und fragen: „Was geschah am 1. September 1939?“ Wie viele richtige Antworten wären zu erwarten? Wahrscheinlich .nicht allzu viele. Dabei würde man es schon als richtige Antwort gelten lassen, wenn jemand sagte: Am 1. September 1939 brach der Zweite Weltkrieg aus. Denn im allgemeinen sind wir ja bereit, auch halbrichtige Antworten zu akzeptieren.

Nur soviel: Am 1. September 1939 brach keinesfalls der Zweite Weltkrieg aus. An diesem Tag begann der Angriff der Deutschen Wehrmacht auf Polen. Ein Feldzug nahm seinen Anfang. Zwei Tage später, am 3. September, wurde daraus der deutschfranzösisch-englische Krieg, und erst im Dezember 1941 haben wir es mit jenem Weltkrieg zu tun, der in der fortlaufenden Zählung die Nummer 2 erhielt.

Heikler würde es noch, wenn wir weiter fragten: Wer war schuld am Zweiten Weltkrieg? Wie aus der Pistole geschossen wäre hier die Antwort zu erwarten: „Adolf Hitler.“ Doch diese Standardantwort verfällt zunehmender Einschränkung. War es wirklich nur Hitler, der am Ausbruch des Krieges Schuld hatte? War es wirklich nur die nationalsozialistische Führung, war es nur das deutsche Volk, das diese Führung an die Macht gerufen hatte?

War es Adolf Hitler, der das alles verursachte? Oder gab es da noch andere Verursacher?

Noch vor zehn und fünfzehn Jahren stiegen Historiker dieser Frage wegen auf die Barrikaden, ziehen sich gegenseitig der Verbreitung von „Platitüden“ (A. J. P. Taylor über Wolfgang Sauer) und „Pamphleten“ (Hermann Graml über David L. Hog-gan) und warfen mit Bewertungen wie „mißglückt, unfundiert und unhaltbar“ (Graml über Taylor und Hoggan) um sich, wenn es darum ging, die jeweiligen Darstellungen über die Ursprünge des'Weltkriegs zu charakterisieren.

Meistens ist in der saftigen Polemik die auch heute noch aktuelle Frage untergegangen: Läßt es sich beweisen, daß der Zweite Weltkrieg außer söinen Schuldigen auch seine objektiven Ursachen hatte?

Bis zum Aufkommen einer „revisionistischen“ Schule über den Kriegsbeginn 1939 hatte es Historiker kaum mehr gereizt, sich mit dem Thema „Hitler und der Kriegsausbruch“ zu beschäftigen, da dies offenbar kein Forschungs-, sondern nur mehr ein Darstellungsproblem war. Doch plötzlich waren ein Oxforder Universitätsprofessor und ein amerikanischer Historiker zu dem Schluß gekommen, Hitler sei keineswegs an der Entfesselung des Kriegs schuld gewesen. Nicht der Mörder, die Ermordeten wären schuld!

Das konnte nicht unwidersprochen bleiben. Bei den Repliken kam dann unendlich Wichtiges zutage. Rein äußerlich taten die Historiker freilich genau das, was ihnen gerne vorgeworfen wird: Sie haben die Sache verwirrt. Vordem schien alles so klar, war einer der Böse unter seinesgleichen und alle anderen waren gut. Debattiert wurde bestenfalls, ob der Krieg ausgebrochen oder entfesselt worden ist.

Der Schweizer Historiker Walter Hofer meinte dazu: „Mit voller Absicht sprechen wir von einer .Entfesselung' und nicht von einem .Ausbruch' des Zweiten Weltkriegs. Ein Vulkan .bricht aus', eine Epidemie .bricht aus' - der Krieg von 1939 ist nicht in diesem Sinn ausgebrochen, sondern lange geplant, genau vorbereitet und schließlich bewußt ausgelöst worden.“

Doch auch das stimmt nur bedingt, denn „ausgebrochen“ ist der Erste Weltkrieg genauso wenig. „Ausgebrochen“ ist wahrscheinlich so gut wie gar kein Krieg. Irgend jemand mußte ihn immer herbeiführen. Und lange geplant, genau vorbereitet und bewußt ausgelöst wurde er genauso von Polen, das den Marsch auf Berlin plante, von Frankreich und Großbritannien, die ihrer Garantieerklärung für Polen die Kriegserklärung an Deutschland folgen ließen, wie von den USA, von Japan oder der Sowjetunion.

In Nürnberg saß man freilich nur über Deutschland zu Gericht Einer der Anklagepunkte war jener der Vorbereitung und Führung eines Angriffskrieges. Der Hauptangeklagte, Adolf Hitler, konnte freilich nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden.

Er hätte darlegen können, wie sehr er davon ausging, jenes Programm zu verwirklichen, das im Expose für sein letztes Lebensdrittel, „Mein Kampf, enthalten war, wie für ihn die Revision des Versailler Vertrages nur eine erste Etappe sein konnte, um dann mit der expansionistischen deutschen Vormachtpolitik und schließlich mit der Weltmachtpolitik fortzufahren, an deren Ende er einen in der Generation nach ihm stattfindenden Kampf der europäisch-asiatischen Weltmacht Deutschland mit der atlantisch-pazifischen Weltmacht USA prophezeien zu können glaubte.

Er, Hitler, hätte darlegen können, wie man neue Kategorien in die Diplomatie einführen kann, Kategorien, die uns heute nur zu vertraut geworden sind: Subversion, Propaganda, diplomatischen und wirtschaftlichen Druck, Nervenkrieg und schließlich den „heißen“ Krieg.

In Verfolgung seiner außenpolitischen Ziele (und innenpolitische verfolgte er nach dem 30. Jänner 1933 nur noch insoweit, als sie ihm Mittel für seine Außenpolitik bereitstellen konnten) war er von Mal zu Mal mehr bereit gewesen, den Krieg als Mittel der Politik einzusetzen und war sich sicher, ohne dieses Mittel nicht auskommen zu können.

Bei der Besetzung des Rheinlandes, 1936, hätte er sich noch militärischem Gegendruck gebeugt. 1938, beim „Anschluß“ Österreichs, glaubte er, schon mehr riskieren zu können. Bei der Sudetenkrise und vollends bei der Besetzung der „Resttschechoslowakei“ rechnete er bereits mit Krieg, und im Falle Polens sah er ihn als unvermeidlich äh. Er gab den Angriffsbefehl. Hat man aber mit dem Schuldigen auch wirklich alle Ursachen gefunden?

Schon bald nach Nürnberg begann die Sowjetunion zu fragen, ob nicht Großbritannien ebenfalls ein gerütteltes Maß an Schuld am Kriegsausbruch träfe. Hatte nicht Herr Chamberlain alles getan, um den deutschen Aggressor zu befriedigen und gegen die (vermeintliche?) bolschewistische Gefahr aus dem Osten vorzuschicken?

Gleichsam im Gegenzug sprach Churchill vom „unnötigen Krieg“. Und von da an wurden unzählige Äußerungen als pseudowissenschaftliche Erkenntnisse an den Mann zu bringen versucht, die in Wirklichkeit politische Werturteile und spekulative Einschätzungen waren.

Hätte der Völkerbund nach 1933 Sanktionen ergriffen... Hätten die USA früher ihren Isolationismus aufgegeben... Hätten die Westmächte nicht eine Appeasement-Po-litik betrieben... Hätte Österreich den einmarschierenden deutschen Truppen Widerstand geleistet Hätte die Sowjetunion nicht durch den Abschluß des Paktes mit Hitler in fataler Weise klargemacht, daß Deutschland Rückenfreiheit besäße... hätte, hätte, hätte. Doch der Konjunktiv ist fehl am Platz! Es war eben anders.

Und Adolf Hitler, der Schuldige, ist keineswegs auch der alleinige Verursacher.

(Der Autor arbeitet im Heeresgeschichtlichen MuseumlMilitärwissenschaftliches Institut)

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung