6980055-1986_07_14.jpg
Digital In Arbeit

Warnung vor der „Neuen Klasse“

19451960198020002020

Sind die „Grünen“ nur ein Sammelsurium von Systemkritikern, Berufspessimisten und Amerikahassern? Anhand dieser Fragen untersucht der Autor die politische Zukunft dieser Gruppe.

19451960198020002020

Sind die „Grünen“ nur ein Sammelsurium von Systemkritikern, Berufspessimisten und Amerikahassern? Anhand dieser Fragen untersucht der Autor die politische Zukunft dieser Gruppe.

Werbung
Werbung
Werbung

So wenig präzis sich die ideologische Fundierung der neuen politischen Gruppierung erweist, so exakt lassen sich ihre Anhängerkreise umreißen. Nun wäre es völlig verfehlt, sie etwa mit den verschiedenen, in den letzten Jahren entstandenen „grünen“ politischen Parteien zu identifizieren, schon eher mit den Unterschreibern des Volksbegehrens gegen den Bau des Kraftwerks Hainburg.

Grob gesprochen, umfaßt die Anhängerschaft dieser Ideologie

den Großteil des gehobenen Bürgertums. Da ist zunächst—zumindest bis in die jüngere Zeit - die Mehrheit der Studentenschaft. Weiters ein erheblicher Teil der Akademiker und Lehrer, soweit er nicht den Natur- oder Wirtschaftswissenschaften zuzurechnen ist; nahezu umfassend dürfte ihre Anhängerschaft unter den Künstlern sein, und schließlich ist ihnen ein erheblicher Teil der in den Massenmedien Tätigen zuzurechnen.

Wenig Sympathisanten finden sich unter den Unternehmern und mittleren sowie kleineren Angestellten, und unter den Arbeitern stößt diese Ideologie auf feindselige Ablehnung, weil gerade diese die negativen Auswirkungen dieser politischen Aktivität zu tragen haben. Alles das ist durch zahllose Befragungen publik geworden...

Zur Verbreitung des Gedankengutes dienen nur in sehr eingeschränktem Maß die „grünen“ Parteien. Wiewohl sie natürlich in den Massenmedien in einem über ihre zahlenmäßige Bedeutung weit hinausgehenden Maße dargestellt werden, ist den Angehöri-

gen dieser Gruppe klar geworden, daß ihre Chancen in der offenen demokratischen Konkurrenz beschränkt sind. Sie versuchen daher in den großen politischen Parteien Fuß zu fassen, um von dort her ihre Meinungen durchzusetzen. Dazu haben sie ein Stereotyp entwickelt, das in Berichterstattung und Kommentar immer wiederkehrt:

Alle einschlägigen Äußerungen in den Massenmedien laufen darauf hinaus, daß die großen politischen Parteien „versteinern“, und zwar deshalb, weil sie sich den „neuen Bewegungen und Problemen“ nicht aufschlössen. Ihre Aufgabe wäre es also grundsätzlich, alles „Neue“ zu übernehmen ...

Die Situation bietet sich also dermaßen dar, daß diese Gruppe ihre Ideologie von ihrer beherrschenden Position aus nicht nur vertritt und propagiert, sondern auch den politischen Parteien danach Zensuren erteilt, wie weit diese bereit sind, ihre Auffassungen zu übernehmen

Welche Position hätte nun die Arbeitnehmerbewegung im allgemeinen und die Sozialistische Partei im besonderen der Neuen Klasse gegenüber einzunehmen?

Sie sollte im Prinzip eben dadurch bestimmt werden, daß die neue Ideologie am Wertsystem der Partei gemessen wird.

Als Ausgangspunkt der Überlegungen diene die immer wieder und von allen Seiten beschworene Verpflichtung der sozialistischen Parteien, nicht nur neuen Bewegungen gegenüber „aufgeschlossen“ zu sein, sondern ständig nach „Neuem“ zu suchen, ja letztlich dafür Sorge zu tragen, daß dem Leben der Staatsbürger ein „Sinn“ gegeben werden könne.

Hier hat eine merkwürdige Umkehr stattgefunden: Solche Bewe-

gungen entstanden einst aus dem Zusammenschluß von Menschen, die sich gegen sehr konkrete und bedrückende Übel zur Wehr setzten. Heute ist — auch unter dem Einfluß der Neuen Klasse, die permanent dazu aufruft, Utopien zu entwickeln — ein Zwang entstanden, stets „Neues“ zu präsentieren, also Probleme regelrecht zu suchen!

Vielleicht wird diese Einstellung dadurch begünstigt, daß sich die sozialistische Gesellschaft, der wir uns nach den großen Erfolgen der sozialistischen Bewegung sehr angenähert haben, sich nicht so grundsätzlich von der früheren kapitalistischen unterscheidet. Man gewinnt keinesfalls den Eindruck, daß ein neues Millenium angebrochen sei oder demnächst anbrechen werde. Der ungeheure soziale Wandel des letzten Jahrhunderts, aber auch

nur der letzten 40 Jahre vollzog sich zumeist allmählich, Schritt für Schritt, und wurde daher den Zeitgenossen nur in sehr einge-. schränktem Maß bewußt. Wer denkt schließlich daran, daß noch vor 50 Jahren für weite Kreise der Arbeiterschaft kaum das Existenzminimum gesichert war (seither ist das Durchschnittseinkommen auf das Fünffache gestiegen); daß für die Arbeiter keine Alterspension existierte, daß Kinder aus diesen Kreisen kaum hoffen durften, die Universitäten zu frequentieren

Dazu kommt etwas Weiteres, Prinzipielleres. Die klassische sozialistische Programmatik ging eigentlich stets davon aus, daß der Sozialismus sozusagen den diametralen Gegensatz zum Kapitalismus bedeute. Dieses utopische Denken erhielt durch das Entstehen der Neuen Klasse wieder Auftrieb, als der so verstandene Begriff „Kapitalismus“ eine Renaissance erlebte.

Ein solcher Ansatz wird den historisch-ökonomischen Gegebenheiten in keiner Weise gerecht. Es gibt unter säkularen Aspekten keine alternativen Entwicklungspfade, die da Kapitalismus oder Sozialismus heißen. Die entschei-

dende historische Wende - wahrscheinlich der tiefste Entwicklungsbruch der Menschheitsgeschichte überhaupt — heißt industrielle Revolution. Durch sie wurden Jahrtausende agrarischer Subsistenzwirtschaft durch eine solche des allgemeinen Reichtums technisch fundierter Industrieproduktion und Dienstleistungen abgelöst.

Dafür bedeuten heute Marktwirtschaft und östliche Planung -„realer Sozialismus“ - keine Alternativen, sondern unterschiedliche Ausprägungen des entscheidenden historischen Wandels. Letztere ist sozusagen der mißratene Bruder des Kapitalismus!

Die historische Funktion des Sozialismus bestand darin, dem Entwicklungsprozeß eine Richtung gegeben zu haben, der dessen negative Auswirkungen minimierte, und zwar nicht nur auf ka-

ritative, sondern auf systematische Weise, durch Einbau der Arbeiterschaft in das System, also letztlich durch Verwirklichung der egalitären Ansätze dieses historischen Prozesses.

Wenn also die linksradikale Kritik die Sozialdemokratie als „Steigbügelhalter des Kapitalismus“ bezeichnet, so ahnt sie gar nicht, wie recht sie hat!

Demgegenüber ist die Wahl des ökonomischen Systems die organisatorische Antwort auf die drei Grundfragen einer jeden Wirtschaftsgesellschaft: Was und wieviel wird durch wen und letztlich für wen produziert? Diese Fragen sind zwar auch sehr wichtig, aber von sekundärer Bedeutung.

Nur die Neue Klasse weiß von den fatalen Folgen des „kapitalistischen“ Wirtschaftssystems zu berichten, wozu linksradikale Realitätsferne mit der aristokratischen Verachtung für die „Handies“ eine glückliche Verbindung eingehen. Die zentrale Aufgabe der Sozialdemokratie konnte es daher nicht sein, sozusagen eine „Gegengesellschaft“ oder eine „Gegenökonomie“ zu schaffen, sondern eine humane Entwicklung der Industriegesellschaft sicherzustellen.

Aus diesen grundsätzlichen Überlegungen läßt sich somit die Position der Sozialdemokratie gegenüber der Neuen Klasse ableiten:

• Die Sozialdemokratie ist schon aus ihrer eigenen Tradition heraus (aber eben auch aus ihrem Auftrage, die Industriegesellschaft zu humanisieren) eine Partei der Arbeitnehmer. Nicht nur die Industriearbeiterschaft ist ihre Kerntruppe, sondern — zumindest in Österreich — die gesamte mittlere und kleinere Angestelltenschaft! Sie kann daher nicht gleichzeitig die politische Vertretung einer wahrhaft privilegierten Oberschicht werden.

• Will sie aber die Interessen der Arbeitnehmerschaft wahrnehmen, dann gibt es keinen „Wachstumsverzicht“, sondern die Steigerung des Wohlstandes bleibt weiterhin ein politischer Programmpunkt.

Das heißt, bei Gott, nicht, daß sich die Partei auf diesen materiellen Aspekt des Lebens beschränken soll. Seit ihren frühesten Anfängen hatte sie stets auch, die kulturelle Weiterentwicklung der Menschen im Auge gehabt und betrachtet die Kulturpolitik als die „Fortsetzung der Sozialpolitik mit anderen Mitteln“!

Aber gerade hier hätte sie den Trennungsstrich zwischen sich und der Neuen Klasse sehr deutlich zu ziehen, denn nur in der Attitüde des romantischen Weltschmerzes besteht eine Alternative zwischen materiellem Wohlstand und geistiger Entwicklung.

• Es hieße überhaupt Wurzeln und Tradition der Sozialdemokratie zu verleugnen, wollte man den romantischen Weltschmerz der Neuen Klasse akzeptieren. Die Sozialdemokratie war stets eine aktive, konstruktive Bewegung, welche Wirtschaft und Gesellschaft gestalten wollte.

Diese Position der Sozialdemokratie ist gleichgeblieben und muß auch gleichbleiben, sonst wäre sie nicht länger die Soziaide-, mokratie!

Damit soll keineswegs übersehen werden, daß die Menschen sehr häufig irrational reagieren; das muß man zur Kenntnis nehmen. Aber das darf nichts daran ändern, daß die Sozialdemokratie eine rationalistisch fundierte Bewegung bleibt! Sie ist, wie das ganze industrielle Zeitalter, ein Kind der Aufklärung!

Die romantischen Rückfälle haben in der Vergangenheit zumindest auf kulturellem Gebiet oft eine reiche Ernte gebracht. Doch steht es außer Zweifel, daß sich die Sozialdemokratie durchaus auch von dorther anregen lassen kann, wenn echte und nicht erfundene Probleme aufgegriffen werden. Das gilt für jede Bewegung — Linksradikale werden entsetzt aufschreien - auch für die Reaga-

nomics!

Gerade in Österreich trägt die Sozialistische Partei seit ein und einhalb Jahrzehnten die Verantwortung für die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft.

Da sich die Marktwirtschaft als das effizienteste System erwiesen hat, änderte die Sozialdemokratie auch ihre Einstellung zum privaten Unternehmer. Sie sah, daß er ein unabdingbarer Bestandteil eines solchen Wirtschaftssystems ist. Sie achtet daher darauf, daß auch für Unternehmer günstige Entwicklungsbedingungen gegeben sind. Sie wird daher allmählich zu dem, was sie sich in jenem Parteiprogramm des Jahres 1958 vorgenommen hatte, mit dem der Weg durch die letzten Jahrzehnte bereitet wurde, „eine Partei aller Arbeitenden“.

Der Autor ist Mitglied der Leitung des österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung. Der Beitrag zitiert auszugsweise einen Aufsatz aus der demnächst erscheinenden „Europäischen Rundschau 1/86“

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung