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Warten auf den Mahdi

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Was sollte man über die Scharia und den islamischen Fundamentalismus unbedingt wissen? Ist der Islam Religion, ist er Politik, oder ist er vielleicht sogar beides?

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Was sollte man über die Scharia und den islamischen Fundamentalismus unbedingt wissen? Ist der Islam Religion, ist er Politik, oder ist er vielleicht sogar beides?

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Sunniten und Schiiten haben ein unterschiedliches Bild von der frühislamischen Gemeinde hinsichtlich der Legitimation der Nachfolge des Propheten Muhammad. Das hängt damit zusammen, daß der Prophet selber keinen Nachfolger hinterlassen und nach sunnitischer Ansicht auch keine eindeutige Verfügung bezüglich seiner Nachfolge getroffen hatte.

Die Sunniten („Anhänger der Tradition“) gehen davon aus, daß die vier ersten Kalifen (Nachfolger, Stellvertreter), Abu Bakr, Umar, Uthman und Ali, allesamt „rechtgeleitet“ waren, weil sie „rechtmäßig“ gewählt wurden. Die Schiiten (Anhänger der schiat Ali, der Partei Alis, kurz Schia genannt) machen dagegen geltend, daß nur der vierte Kalif, Ali — weil mit der Familie des Propheten blutsverwandt —, der „rechtmäßige“ Nachfolger Muhammads gewesen sei; Ali war nämlich Vetter und Schwiegersohn des Propheten (durch die Heirat mit Fatima). Die drei ersten Kalifen sind in den Augen der Schiiten Usurpatoren des Kalifats von Ali.

Während die Sunniten in den folgenden Jahrhunderten an der Institution des Kalifats festhielten und damit das dynastische Prinzip etablierten (erst 1924 wurde von der Republik Türkei das Kalifat abgeschafft), knüpften die Schiiten die Leitung des muslimischen Staates an einen charismatischen Führer, den Imam, Träger des göttlichen Lichtes — nicht zu verwechseln mit dem normalen Vorbeter und administrativen Leiter in jeder Moschee, der auch Imam genannt wird. Der Streit um die religiös-politische Leitung der Gemeinde zwischen Sunniten und Schiiten wirkte sich aber auch auf ihr jeweüiges Rechtssystem und Glaubensleben aus.

Im Koran, auf den sowohl Sunniten als auch Schiiten ihr jeweiliges Glaubenssystem gründen, sind jene göttlichen Gesetze grundgelegt, die in einem Gemeinwesen zur Anwendung kommen müssen, damit Islam (Hingabe an Gott) als Religion sein kann. . Denn der Islam versteht sich als ein das ganze private wie öffentliche, gesellschaftliche Leben umfassendes religiöses System, das die Trennung zwischen weltlich und geistlich nicht kennt (im Gegensatz zum Christentum, wo zwischen dem, „was des Kaisers ist“, und dem, „was Gottes ist“, unterschieden wird).

Im Islam nimmt daher die Jurisprudenz und nicht die Theologie den höchsten Rang ein. Die islamischen Religionsgelehrten und Theologen,dieUlama -ein „Klerus ohne Kirche“ und ohne klar überschaubare Hierarchie, denn der Islam kennt keine Lehrautorität -, begreifen sich folglich in erster Linie als Rechtsgelehrte. Den Ulama entsprechen übrigens bei den Sehnten die Mullahs und Ayatullahs.

Im Laufe der Zeit wurde jedoch der Koran als Basis für Rechtsentscheidungen zu wenig. Man griff daher auf das Vorbild, den „Brauch“ (sunna), Muhammads und der Prophetengefährten zurück, um jeden einzelnen Fall des täglichen Lebens exemplarisch zu regeln, von der Politik bis zu den Tischsitten.

In diesem Punkt unterscheiden sich Sunniten und Schiiten fundamental, denn für die Sehnten ist ja die Mehrzahl der Prophetengefährten nicht mehr ganz unbescholten; man mußte daher die Tradition auf die Prophetenfamilie beschränken beziehungsweise auf jene, die sich zu Ali bekannt hatten.

Bei den Sunniten ist es im 10. Jahrhundert durch geographisch leicht abweichende Konsensbildungen zur Institutionalisierung von vier Rechtsschulen (Hanbali-ten, Hanifiten, Malikiten und Schafiiten) gekommen, die vom sunnitischen Islam gleichermaßen als legitim anerkannt werden. Dies bedeutete aber das Ende der freien Rechtsfindung, die die schiitischen Juristen beibehalten haben. Als fünfte Rechtsschule sehen viele Muslime die schiitische an.

Die Kenntnis der Scharia, des religiösen Gesetzes, wird durch das von diesen vier orthodoxen Rechtsschulen detailliertest ausgearbeitete Rechtssystem vermittelt. De facto herrscht in den meisten islamischen Ländern gegenwärtig eine Art Mischgesetzgebung, da viele Bereiche einer zivilen Gesetzgebung westlichen Musters unterstehen (der Kadi wurde durch Richter ersetzt).

In dieser Zurückdrängung der Scharia wurzelt der Versuch der Fundamentalisten, die Scharia wieder in sämtlichen islamischen Ländern einzuführen (nach dem Beispiel des Iran wird somit eine „Repolitisierung des Sakralen“ angestrebt). Denn die Scharia ist ein göttliches Gesetz und daher ein unveränderbares, keinem historischen Wandel unterworfenes Recht.

Die schiitische Konfessionsgemeinschaft des Islam umfaßt etwa zehn bis fünfzehn Prozent der muslimischen Weltbevölkerung (etwa 600 Millionen Menschen) der Gegenwart. Deren zahlenmäßig bedeutendste Gruppe ist die der Zwölferschia, seit dem 16. Jahrhundert die offiziell herrsehende Konfession des Iran (über die Hälfte der Muslime des Irak sind ebenfalls schiitisch; weitere Gruppierungen gibt es im in-do-pakistanischen Raum, Afghanistan, im sowjetischen Zentralasien, auf Bahrain, in den Küstenregionen der arabischen Golfländer und im Libanon).

Im Laufe der Zeit bildeten sich verschiedene schiitische Richtungen mit unterschiedlichen Imam-Reihen; diese umfassen jedoch stets leibliche Nachkommen Alis, der selbst als der Ur-Imam gilt. Mit einem bestimmten Imam bricht dann die Reihe ab; für die Zwölferschiiten oder Imamiten bricht die Imam-Reihe mit dem zwölften Imam ab. Dieser ist nicht gestorben, sondern lebt verborgen weiter und wird als Mahdi (Rechtgeleiteter), eine Art islamische Messiasgestalt, wiederkommen, um die Gerechtigkeit wiederherzustellen und jenes Reich Gottes auf Erden zu errichten, das von den Muslimen schon unmittelbar nach dem Tode des Propheten verfehlt wurde.

Da der zwölferschiitischen Linie kein politischer Erfolg beschieden war, also das Kommen des Mahdi ausblieb, wurde eine immer größere Idealisierung des Imams entwickelt: er sei frei von Irrtum und Sünde; demgegenüber hat der Prophet nach sunnitischer Lehre durchaus menschliche Grenzen und Schwächen. Die Wiederkehr des Mahdi wurde so zur geschichtlichen Utopie und religiösen Endzeithoffnung.

Aus diesem Scheitern heraus entwickelten die Schuten Sinn für das Leiden, das Martyrium und die Erlösung, was für den sunnitischen Islam nicht gilt. Zentrum dieser Passionsmystik ist bis heute das Ereignis von Kerbela (Irak), wo 680 der dritte Imam, Husain (Sohn Alis und Fatimas), durch die Usurpatoren des Kalifats, die sunnitischen Umayya-den, den Märtyrertod fand.

Da es nun keinen rechtmäßigen Imam gab, der die Führung der Gemeinschaft hätte übernehmen können, mußte man die tatsächliche Regierung gelten lassen, auch wenn sie als illegitim angesehen wurde. Ayatullah Khumeini, der an der Spitze des obersten schiitischen Klerus (Ayatullahs) steht, hat sich bemüht, diese Tendenz zurückzudrängen. Seiner Meinung nach könne die Verborgenheit des zwölften Imams nicht bedeuten, daß die Gesetze des Islam bis zu seiner Wiederkehr außer Kraft gesetzt seien. Vielmehr werde die Etablierung einer wahrhaft islamischen Ordnung, wie zur Regierungszeit des Imam Ali, zur unabdingbaren Pflicht. Als Imam ist Khumeini oberster politisch-religiöser Führer und damit konkreter „Stellvertreter“ des zwölften verborgenen Imams.

Während die schiitischen Ulama lediglich die jeweiligen Herrscher (Kalifen) religiös legitimierten — sie haben aber nie dieses Amt selber ausgeführt —, tritt nun unter der Führung Khumei-nis und der anderen Ayatullahs der schiitische Klerus, der die Herrschaft bislang für illegitim gehalten hat, selber als Träger der Herrschaft auf. Damit hat Khumeini einem militanten Fundamentalismus zum Durchbruch verholfen. Der politische Erfolg hebt aber das eigentliche Ziel der Geschichte, die Wiederkehr des Mahdi, nicht auf.

Der Autor ist Dozent am Institut für Religionswissenschaft der Universität Graz.

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