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Warten aufdas Tauwetter

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Das Klima der Beziehungen beider Großmächte ist nach der heißen sowjetischen Invasion in Afghanistan auf sibirisches Niveau herabgesunken. Doch jetzt reden sie wieder miteinander - US-Außenminister Alexander Haig und sein sowjetischer Amtskollege Andrej Gromyko, zuletzt in New York - über Rüstungskontrolle und Abrüstung.

Militärische Balance in Europa ist das erste Thema; später sollen die versandeten SALT-Gespräche wieder aufgenommen werden, sofern den Sowjets Weltsicherheit doch wichtiger ist als handfestes Engagement im aufbegehrenden Polen oder ein neues Abenteuer der Expansion.

Die alte Wahrheit — solange sie miteinander reden, schießen sie wenigstens nicht aufeinander -hat im Zeitalter der nuklearen Abschreckung und der Möglichkeit eines weltweiten Holocaust seine Gültigkeit eingebüßt. Der psychologische Wert von Verhandlungen ist jedoch geblieben — hier wie dort.

Die Sowjets stehen unter Zugszwang und sie sind dazu gar nicht

mehr so abgeneigt, nachdem sich der amerikanische Präsident Ronald Reagan ihre jahrzehntelang erfolgreich praktizierte Methode angeeignet hat: Erst Rüsten, dann über Abrüstung reden! Nach den Rückschlägen in der Weltmeinung brauchen sie einen Propagandaerfolg, der ihre angebliche Friedensliebe dokumentieren soU.

Bereitschaft zu Verhandlungen verpflichtet noch zu nichts. Zudem nimmt der sowjetische Staats- und Parteichef Leonid Breschnew in Europa das gegenwärtige Kräfteverhältnis als Ausgangsbasis, und dieses spricht eindeutig für den Kreml.

Das Londoner Institut für Strategische Studien hat in seinem jüngsten Bericht die militärische Überlegenheit der Sowjets auf dem Kontinent sowohl bei den konventionellen Waffen wie im nuklearen Bereich dokumentarisch belegt. Bei den Raketen mit mittlerer Reichweite — um diese geht es am Tisch der sowjetischen und US-amerikanischen Unterhändler - hat die östliche Macht eine dreifache Überlegenheit über die europäischen NATO-Länder.

Die sowjetischen ŠS-20, bis zur Stunde 270 Stück, haben die Balance der militärischen Stärke eindeutig verschoben. Der NA-TO-Bereich hat dem nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen, was Reichweite und Mobilität betrifft. Breschnew tut sich leicht, über eine Waf f en-verdürmte Zone in Europa diesseits Und jenseits des Eisernen Vorhangs zu reden.

Das Paradestück sowjetischer Raketentechnik könnte auch hinter dem Ural postiert kaum geringeren Schaden auf der Gegenseite anrichten. Was der Kremlherr aber verhindern will, ist die Stationierung von Cruise Missiles (Marschflugkörpern) und Pers-hings-2 aus amerikanischen Waffenarsenalen in Westeuropa.

Seit’dem Ende 1979 steht der Entschluß der NATO-Führer, Europa bis 1984 mit Raketen zu bestücken, die treffsicherer und besser geeignet sind, die feindliche Luftverteidigung zu durchdringen, ferner über größere Mobilität verfügen. Diese Waffen aus US-amerikanischem Besitz unterstreichen Washingtons Bereitschaft, im Ernstfall Europa zu verteidigen.

Ungeachtet der strategischen und Machtvorteile spricht Breschnew von einer Verschiebung des Gleichgewichtes für Europa. Außenminister Andrej Gromyko hat dies vor den Vereinigten Nationen wiederholt. Staatspräsident Breschnew verspricht, Raketen des mittleren Bereiches aus Osteuropa abzuziehen — vorausgesetzt, die Amerikaner verzichten auf die Stationierung ihrer Nuklearwaffen in Europa: 112 Marschflugkörper in Italien, 116 in Großbritannien, 48 in Holland und ebensoviel in Belgien. Westdeutschland soll der Standplatz von 204 Cruise Missiles und Pers-hings werden.

Zuletzt hat der Kremlherr dem Besucher Michael Foot, Chef der britischen Labour Partei, seine Verhandlimgsbereitschaft kundgetan: Er ist bereit, die Zahl der Nuklearwaffen mittlerer Reichweite zu verringern, wenn der Westen dasselbe tut. Richtmaß ist der Status quo, der eine Schlagseite nach Osten aufweist.

Der amerikanische Präsident Reagan hat in seinem jüngsten Brief an den Kreml die Rüstungsanstrengungen der Sowjets über die eigenen Verteidigungsbedürfnisse hinaus kritisiert. Auch der amerikanische Präsident steht unter dem Zwang, so schnell wie möglich eine Lösung auf dem Verhandlungstisch zu finden, so unwahrscheinlich dies angesichts der Schwierigkeit und Komplexität der Materie auch sein mag.

Der Druck zur Aktion kommt nicht sosehr von- der ideologischen Gegenseite, als aus den Reihen der Verbündeten, die sich im eigenen Land schärfster Opposition gegen die Stationierung von Raketen ausgesetzt sehen. Die allgemeine Rüstungsmüdigkeit verbunden mit den wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die militärischen Budgets aufzustückeln, sind eine gewaltige Herausforderung für die Geschlossenheit des Westens.

Der Protest gegen die sogenannten „Theater Nuclear Forces" (TNF), einsatzbereit für den Fall Europas als Kriegsschauplatz (Theater of war) ist eine gesamteuropäische Tatsache.

Die Friedensbewegungen oder was sich sonst noch als solche bezeichnet, argumentieren: Solche Waffen provozieren zur Gegenaktion, machen die Länder zu Angriffspunkten, geben den Amerikanern das Alibi, die Stoßrichtung vom Atlantik auf den Kontinent zu verschieben.

Solcher Opposition können sich auch jene Regierungen nicht entziehen, die treu zu ihren Allianzverpflichtungen stehen. Von den NATO-Verbündeten und künftigen Posten amerikanischer Raketen steht die britische Regierungschefin Margaret Thatcher felsenfest zu den Beschlüssen von 1979. Nach 1984 könnte es anders werden, wenn Thatcher abgewählt wird.

Italien, nicht minder bündnistreu, ist der Unsicherheit ständiger Regierungswechsel ausgesetzt. In Holland und Belgien gewinnen die Anti-TNF-Kräfte.die Oberhand. Der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt, von der Notwendigkeit dės Raketenbesitzes zutiefst überzeugt, droht mit Rücktritt, falls die Rüstungsgegner auf der Parteilinken Erfolg haben.

Diese Gegenströmung in Europa zwingt den amerikanischen Präsidenten, die einzige Möglichkeit zur Verringerung militärischer Stärke ins Visier zu nehmen, die bleibt: dann nämlich, wenn auch die Sowjets ihre SS-20 und ihre Bomber (Codewort: Backfire) teilweise abziehen.

Doch der Fortschritt der Diplomatieist lähmend. Zu langsam, um Reagans Dilemma zwischen östlicher Bedrohung und westlicher Rüstungsmü^igkeit schon in Kürze zu lösen.

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